"Denn es gibt keinen Schlupfwinkel, in dem ich mich verstecken kann..."
Interview mit Mehmet Tarhan, Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei, für die spanische Zeitung Diagonal, gedruckt im Jänner 2006. Mehmet beantwortete dieses Interview im Oktober 2005 während seines letzten Hungerstreiks und nachdem er erneut körperlich misshandelt worden war.
Interviewtext - Übersetzung aus dem Spanischen
Hallo C.!
Wie Du bereits weißt, haben Deine Fragen lange gebraucht, bis ich sie in meinen Händen hatte. Ich brauchte auch einige Zeit, um Kuli und Papier in die Hand zu nehmen und sie zu beantworten. Es sind viele unangenehme Dinge passiert. Und ich hatte Angst, meine Antworten würden mir nicht ähneln, denn meine Gedanken und Gefühle waren so sehr durcheinander. Heute ist der zwölfte Tag meines Hungerstreiks und obwohl ich nicht zur Ruhe gekommen bin, werde ich Deine Fragen beantworten, denn in den nächsten Tagen werde ich möglicherweise ernsthafte Wahrnehmungs- und Konzentrationsprobleme erleben. Ich weiß nicht, ob sie Dich zufrieden stellen werden, hoffe aber, dass sie es tun. Außerdem wollte ich Dir und allen Leuten danken, die Dir geholfen haben. Ich frage mich die ganze Zeit, wie Du auf diese Fragen kommen konntest. Ich habe noch nie so viele schwierige Fragen auf einen Haufen gesehen! :)
1) Kannst Du Dich vorstellen? Wir würdest Du Dich der "spanischen Linken" vorstellen? Und wie den EinwohnerInnen der Türkei?
Vielleicht ist die letzte Person, über die mensch erzählen sollte, mensch selber, aber ich werde es versuchen. Ich bin Mehmet, bin 27 Jahre alt und bin seit sechs Monaten in einem Militärgefängnis. Ich habe im Oktober des Jahres 2001 meine Kriegsdienstverweigerung erklärt und seitdem habe ich versucht, eine Integrität aus Denken-Ausdruck-Aktion aufrecht zu erhalten. Tatsächlich war die öffentliche Erklärung ein erster Schritt in diese Richtung. Eigentlich war dies der Tag, an dem ich mein endgültiges Coming-Out machte.
Ich komme vom Land und bin Sohn einer Bauernfamilie. Meine Kindheit verlebte ich während der Blütezeit des türkischen Nationalismus, und ich war der „Andere“ von geburts wegen, d. h. Kurde. Ich bin in einer repressiven Stimmung groß geworden, die auf den Militärputsch folgte. Als Kind war ich eher ängstlich und versuchte ständig, die Anerkennung anderer zu erhalten: von meiner Mutter, von meinem Vaters oder von meinen Lehrern. Besonders außerhalb der Familie strengte ich mich ganz beachtlich an, mir "Aber"s zu verdienen: "Kurde aber gut", "Kurde aber erfolgreich", "Kurde, aber er spricht perfekt türkisch." Während der Pubertät entdeckte ich, dass ich schwul bin. Obwohl es lange Zeit brauchte, dies vor mir selber zuzulassen, war es doch ein Riss in meinem gläsernen Schutzmantel. Denn nun konnte kein weiteres "Aber" diesen Mangel ausgleichen.
Derweil ging ich mit 17 Jahren nach Diyabakir (die Hauptstadt des türkischen Kurdistans. Anm. der Übersetzerin), wo der Krieg am Wüten war, um dort als Beamter für sechs Jahre zu arbeiten. Für die EinwohnerInnen von Diyabakir war ich die TR (Türkische Republik), und für die, die sich als VertreterInnen der TR begreifen – Militär und Polizei – war ich "der Andere", nur weil ich Kurde war. So gehörte ich weder zu der einen Gruppe, noch zu der anderen. Vielleicht verdanke ich diesem "Zwischen-den-Stühlen-sitzen" die Tatsache, nicht am Kreislauf der Gewalt teilgenommen zu haben. Die politischen Konflikte und die, die ich ihn mir erlebte, hinderten mich daran, mich mit dem System zu verbünden.
Zur selben Zeit erlebte ich meine Jugendjahre und versuchte mit meiner Identität zu Rande zu kommen. Was ich als meine Identität verstand, zwang mich, eine Entscheidung zu fällen und ich entschied, mich nicht mehr zu verstecken. Ich wollte nicht den Preis zahlen dafür, den Status Quo aufrecht zu erhalten. So brach ich mit meinem Lebensweg. Ich arbeitete mit Kaos GL - einer unabhängigen politisch-kulturellen LGBT-Gruppe - und LamdaIstanbul, einer LGBT-Initiative, die Bürgerrechte verteidigt. Und ich unterstützte antimilitaristische Aktivitäten und versuchte, mich in diese Richtung zu engagieren.
Ich habe nie das Verlangen verspürt, diese Vielfalt, die wir "Gesellschaft" nennen, in irgendeine Richtung hin zu verändern. Ich habe nie einen richtigen Weg festgelegt, auch nicht für mich selbst, habe aber unablässig mit meiner Selbsthinterfragung weitergemacht. Am Ende gelangte ich zu einem Schluss: Es ist unumgänglich, an sich selbst zu arbeiten, um eine Welt zu erschaffen, die nicht gewalttätig und diskriminierend ist. Und außerdem fühlte ich das Bedürfnis, die Meinungen, die ich mir bildete, mit Worten und Aktionen anschaulich zu machen. Jetzt in der Gegenwart versuche ich weiterhin, dieses Bedürfnis zufrieden zu stellen.
Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Auch wenn ich es wer weiß wie sehr verabscheue: Ich bin eher eine durchschnittliche Person. Genau vor meinem Eintritt ins Gefängnis habe ich in einem Verlag gearbeitet und mein Leben verging zwischen meinem Zuhause und meiner Arbeit. Und hier drin vergeht mein Leben in meiner Zelle und ich mache genau dasselbe, was auch die anderen Häftlinge tun.
2) Was bedeutet für Dich die militärische Institution?
Die Armeen sind die Schlagstöcke, mit denen die Staaten schlagen. Und die Staaten gebrauchen diese Schlagstöcke nicht nur gegen andere Staaten. Ich denke, dass dies besser an Orten wie die Türkei und Spanien zu verstehen ist, wo es Militärputschs gab. In genau diesen Momenten offenbart die Armee ihre wahre Aufgabe. In der Türkei gilt die Armee noch immer als die vertrauenswürdigste Institution. 80% der befragten Personen bestätigen dies. Die Tatsache, dass es ein solches Vertrauen in eine archaische Institution überhaupt gibt, basiert auf dem Mythos einer "Militär-Nation". Das mächtigste Instrument, um der Gesellschaft diesen Mythos aufzuzwingen ist der Wehrdienst. Wenn wir dabei die Nationalisierung (er bezieht sich damit auf den Wandlungsprozess der Türkei hin zu einem modernen Staat in den 1920er Jahren, ab dem Sturz der osmanischen Monarchie im Jahre 1918, die von General Kemal Atatürk angeführt wurde. Um diese Wandlung zu vollziehen, führte Atatürk den staatlich verordneten Laizismus ein und bediente sich einer stark nationalistischen Ideologie, die auch heute noch beinahe im gesamten politischen Spektrum der Türkei vorherrscht. Anm. der Übersetzerin] der Türken und die Geschichte der Republik bedenken, verstehen wir, dass die Armee immer eine entscheidende Rolle als "Gründer und Hüter" des Regimes gespielt hat.
Während wir dabei waren, die Zeitschrift "Militourismus" (Militurizm) vorzubereiten, definierten wir die Baracken von Selimiye – die als "Geburtsort" der türkischen Armee gelten und heute noch eine der gigantischsten und modernsten Militärsiedlungen sind - als eine "Nivellierungs- und Drechslerwerkstatt". Mit Hilfe des Pflichtwehrdienstes werden Männer, die die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, durch diese "Werkstatt" geführt, mit dem Ziel, sie in gehorsame Menschen zu verwandeln, die dann auch Gehorsam innerhalb der Familien erwarten, die sie anschließend gründen. Dies bedeutet, dass der Militarismus sich bis in die Tiefen eines jeden Familienheimes einschleust. So hat das Individuum keine andere Möglichkeit, als in eine hierarchische Struktur hinein geboren zu werden.
Der Wehrdienst schafft eine Definition von "Normalität" indem Frauen, Homosexuelle, Behinderte, Jungen und Mädchen ausgeschlossen werden. Anschließend wird diese Definition auf die restliche Gesellschaft ausgeweitet. Der heterosexuelle Mann avanciert zur Norm und zur bevorzugten Identifikationsfigur des Regimes. Die restlichen Menschen gelten als "Abfall" oder "Eigentum", das beschützt werden muss. Wir sollten betonen, dass dieser Prozess auch Unterschiede festlegt, die auf ethnischen und religiösen Charakteristiken basieren.
Kurzum, die Armee als Institution schafft eine bestimmte Art von Bürger, und erniedrigt und übt Gewalt gegen all jene Menschen aus, die sich diesem Modell nicht anpassen. Sie erhebt die Kultur der Gewalt und Hierarchie zu einem unumstrittenen Kult, auf dem sie ihre Existenzgrundlage und die angebliche Notwendigkeit zur Weiterexistenz aufbaut. In diesem Prozess muss sie sich "die Anderen" erschaffen. Und diese "Anderen" müssen eine konstante Gefahr darstellen oder besser noch, die Leute sollten davon überzeugt sein, dass sie es tun. Vielleicht können wir diesen Versuch, die Menschen glauben machen zu wollen, dass sie in beständiger Bedrohung leben, als eine Form von Terrorismus definieren. Hier hast Du eine zwar bissige, aber anschauliche Definition: "Die Institution Militär ist eine Organisation, die mit Hilfe von patriarchalen, heterosexuellen, körperlichen und geistigen Normen Terror produziert". Das ist es, was die militärische Institution für mich bedeutet.
3) Wofür kämpfst Du?
Wie ich schon vorher gesagt habe, kämpfe ich dafür, meine Integrität aus Denken-Ausdruck-Aktion aufrecht zu erhalten. Ich möchte mich aufrichtig ausdrücken können und in meinem Leben einen Weg finden, der meine konstante Transformation ermöglicht, anstatt darauf zu warten, das es zu einer sozialen Veränderung kommt. Während ich dabei bin, dieses Ziel zu verfolgen, versuche ich, wenigstens nicht Teil des Militarismus und seiner immanenten Diskriminierungsformen zu sein. Es befriedigt mich nicht, diese Fragen nur mir alleine zu stellen, und das erschreckt die Menschen. Ich denke mal, dass ich erwarte, dass jedeR wenigstens dieses interne Infragestellen durchführt. Und meine Utopie ist, eine Sprache zu kreieren, die frei von Gewalt und jeglicher Art von Diskriminierung ist.
4) Wie würdest Du dein Engagement den folgenden Personen erklären: Deiner Mutter, einem türkischen Soldaten beim Wehrdienst und einem hohen Tier in der türkischen Militärhierarchie?
Das ist die schwierigste Frage:). Ich würde nicht unbedingt unterschiedliche Worte benutzen, um mich an diese einzelnen Personen zu wenden. Und in der Tat habe ich bis jetzt keine unterschiedlichen Worte dafür gebraucht.
Grundlegend betone ich die Tatsache, dass jeder Mensch ein Recht darauf hat, Entscheidungen bezüglich der Dinge zu treffen, die sein oder ihr Leben angehen. Ich stelle keine Fragen bezüglich moralischer Werte wie Vaterland, Nation oder Flagge. D. h. ich übe mich eher im Aufbrechen gewöhnlicher Denkmuster (als Übung im Verlernen). Wenn ich zum Beispiel mit einer Person rede, die Bezug auf Dinge wie "die Verpflichtung dem Vaterland gegenüber" oder dem "Dienst am Vaterland" nimmt, stelle ich ihr die folgenden Fragen: Wer produziert? Wer also sollte wem dienen? Die Menschen, die von der Notwendigkeit von Armeen sprechen, bitte ich mir zu erklären warum. Jede Begründung führt zu neuen Fragen und deren Antworten zu neuen Fragen. Anstatt alle meine Vorstellungen als Paket herauszuholen, ziehe ich es vor, andauernd Fragen zu stellen. Auch wenn die Person, die ich frage, in eine ganz andere Richtung argumentieren will.
Leider sind wir Zeugen von zu vielen Kriegen und die Bewertungen meiner Mutter, eines einfachen Soldaten oder eines höheren Befehlshabers diesbezüglich unterscheiden sich nicht allzu sehr voneinander. Aber jedeR begreift, dass es in einem Krieg keine Gewinner gibt. Es ist offensichtlich, dass die Gewinne nie auf Seiten der Menschen stehen, der Gesellschaft als solcher. Dass das so offensichtlich ist, hat damit zu tun, dass die imperialistischen Kräfte, die Kriege verursachen, derart schamlos sind, dass sie nicht einmal mehr ihre wahren Ziele verbergen müssen. Aber die Schlussfolgerungen, zu denen die Menschen gelangen, mit denen ich rede, sind leider ähnlich. Fast jedeR bedient sich Argumenten, die auf "der Wirklichkeit" beruhen und die sich hinter Begriffen wie "Unmöglichkeit" und "Schwäche" verstecken.
Und hier kämen wir zur grundlegenden Frage: Was macht einen Menschen aus? Ist es nicht das Bemühen darum, den inneren Frieden zu bewahren? Ist es nicht die Fähigkeit, Entscheidungen diesbezüglich treffen zu können?
5) Warum erwähnst du deine sexuelle Identität in deiner Erklärung als Kriegsdienstverweigerer? Welche Beziehung besteht zwischen diesen Tatsachen?
Wie ich bereits erwähnt habe, war meine Erklärung als Kriegsdienstverweigerer in vieler Hinsicht ein wichtiger Schritt bei meinem Coming-Out-Prozess. Ich bin nicht gegen den Wehrdienst, weil ich schwul bin. Aber natürlich haben sowohl meine ethnische als auch sexuelle Identität meine Infragestellen des Militarismus beeinflusst.
Jedoch hatte diese besondere Betonung meiner sexuellen Identität noch andere Gründe: Zuerst einmal weil die türkische Armee Homosexuelle stigmatisiert, und zwar indem sie dafür den Befund zur "Nichttauglichkeit" gebraucht, der auf türkisch als "Referenz für Verdorbene" ("çürük" raporu) bekannt ist. Um sich für die Bezeichnung "untauglich" zu "qualifizieren", werden sie erniedrigt, indem von ihnen u. a. Rektaluntersuchungen und Fotos von ihrem Geschlechtsverkehr verlangt werden. Es ist sehr traurig, dass es bisher keine Veränderung in diesem Sinne gab und dass sich viele Schwule aus der Türkei dieser Erniedrigung aussetzen. Welchen besseren Weg gibt es, homosexuellen Menschen die Vorstellung aufzuzwingen, dass Schwulsein etwas sei, für das sie sich schämen sollten! Als ich mich darauf in meiner Erklärung bezog, wollte ich den Militärbehörden gegenüber klarstellen, dass "die Homosexualität keine Krankheit ist. Ihr könnt uns auf diese Weise nicht erniedrigen, Ihr habt dazu kein Recht" und den Schwulen wollte ich vermitteln, "lasst nicht zu, dass sie Euch erniedrigen. Jemanden zu erniedrigen, weil er homosexuell ist, ist das wahrhaft Verachtenswerte". Die Armee schafft eine Norm und bedient sich dafür all jener, die sie ausschließt. Und solange diese Ausgeschlossenen schweigen - aus welchen Gründen auch immer -, erfüllen sie die wichtige Rolle, der Ausgangspunkt für diesen Normalisierungsprozess zu sein.
Kurz gesagt, wollte ich Militarismus als ein gesellschaftlich umfassendes Problem vermitteln. Das ist auch der Grund dafür, dass ich die Kriegsdienstverweigerungen, die einige Frauen formuliert haben, als sehr wichtig erachte. Sie trennten die Argumente für ihre Entscheidung, keinen Wehrdienst zu leisten und sich vom Militarismus zu distanzieren, von der Tatsache, einen Kórperteil zu haben, der sie als Frauen definiert. Genauso wie Nazan (eine der türkischen Kriegsdienstverweigerinnen) ihre Ablehnung des Militarismus nicht auf "der Tatsache eine Vagina zu haben" aufbaut, baue ich meine nicht darauf auf, dass ich mit Männern schlafe. Aber es ist kurios, dass sogar in der Gruppe der Kriegsdienstverweigerer hier in der Türkei es einige gab, die die Erklärungen dieser Frauen für lächerlicher hielten als meine. So lautete meine Frage an sie immer: Warum unterstützt ihr mich denn? Weil ich einen Penis habe? Es ist traurig, festzustellen, dass die Kriterien, wer ein Individuum ist, von Militär und Antimilitaristen geteilt werden. Man sieht, dass wir mehr über Militarismus, Heterosexismus und die Verinnerlichung des Patriarchats nachdenken müssen.
Aber vielleicht ist der wichtigste Grund für das Auftauchen des Satzes bezüglich meiner Homosexualität in meiner Erklärung als Kriegsdienstverweigerer dieser: Ich hatte einfach das Bedürfnis.
6) Wer unterstützt dich? Was bedeutet Solidarität für dich?
Nach meiner Inhaftierung wurde die "Soli-Gruppe für Mehmet Tarhan" gegründet. Dabei machen Leute aus verschiedenen Bereichen mit. Neben ihnen ist meine Familie meine wichtigste Unterstützung. Die Haltung, die meine Familie angenommen hat, meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester, war, was mir die meiste Kraft gibt, denn sie haben keine Opferrolle angenommen. Außerdem habe ich viele Unterstützung aus verschiedenen Teilen der Welt erhalten und auch von zahlreichen internationalen Organisationen wie Payday und Amnesty International. In der Türkei unterstützen mich antimilitaristische und anarchistische Gruppen, der IHD (Menschenrechtsverein), LamdaIstanbul, KaosGL und die Grünen.
Es gibt einen Slogan, den LamdaIstanbul benutzt, um Queers anzusprechen: "Du irrst Dich nicht und Du bist nicht allein." Menschen sind konformistische Wesen, die sich sehr gut anpassen können. Auch wenn ich tief davon überzeugt bin, Recht zu haben, empfinde ich das Bedürfnis, dies auch aus dem Mund anderer zu hören. Wenn es sie nicht gäbe, wäre es unvermeidbar, irgendwann aufzugeben oder mich an das alles zu gewöhnen.
Es beschäftigt mich auch alles, was draußen vorgeht, besonders was mit meiner Mutter zu tun hat. Ich denke mal, dass Solidarität bedeutet, die Grundlagen zu schaffen, damit ein Mensch sich dem stellen kann, was vor ihm oder ihr liegt und ihr oder ihm die notwendige Kraft zu geben, dies zu tun. Ich möchte all jenen danken, die mich in diesem Sinne bis jetzt unterstützt haben.
7) Kannst du etwas von dem glücklichsten und von dem schwierigsten Moment erzählen, seitdem du im Gefängnis bist?
Um ehrlich zu sein, hat mir diese Frage nicht gefallen. Es ist nur ein Gefühl. Vielleicht weil es mich viele der Dinge erneut durchleben ließ, mit denen ich mich in den letzten sechs Monaten auseinander gesetzt habe. Leider waren es derart schreckliche Erfahrungen, dass ich sie nie wieder durchleben möchte. Es machte mich glücklich, meine Mutter im Gerichtssaal zu sehen, aber es war gleichzeitig traurig. Ich bin auch glücklich, wenn ich Briefe erhalte, aber wenn mich diese Briefe daran erinnern, auf welcher Seite der Gitterstäbe ich mich befinde, tut es gleichzeitig weh. Ich nehme die Zeit nicht als eine Abfolge von isolierten Geschehnissen wahr. Auch wenn ich deine Frage beantworten wollte, ich kann es einfach nicht. Es tut mir Leid.
8) Meinen Beobachtungen und Recherchen zufolge ist die Türkei (dein "Vaterland" :)) ein Land voller Heldentum und heldenhafter Taten, über seine gesamte Geschichte verteilt. Siehst Du dich als Held?
Offen gesagt bin ich mit deiner Beobachtung nicht einverstanden. Die Heldengeschichten und Helden sind erst kürzlich dem nationalen Imaginär zugefügt worden. Wir können sagen, dass das mit dem Nationalisierungsprojekt begann. Und ich glaube nicht, dass es in diesem Prozess mehr oder weniger Heroismus als in dem anderer Länder gab, die das Pech hatten, etwas ähnliches zu durchleben. Zum Beispiel Postkarten, die mich mit den Worten "Du bist ein Held" erreichen, kommen zumeist aus Großbritannien.
In der Türkei jedoch werde ich eher als "Dummkopf" oder im besten Fall als "Verrückter" angesehen. Vielleicht könnte ich es genießen, mich als Held zu sehen und wahrscheinlich würde das mein Leben einfacher machen, aber leider glaube ich nicht, dass das, was ich mache, etwas Heroisches oder Übermenschliches ist. Ich gebe meiner Meinung eine Stimme und verwandle sie in Handlungen. Das ist etwas, das jeder Mensch machen sollte. Außerdem handele ich nicht stellvertretend für andere. Ich tue es für mich selbst, denn das ist, was mir leicht fällt. Und ich bin egoistisch genug, mich nicht aufzuopfern: ich halte an meinem Bemühen, ein ehrlicher Mensch zu sein. Hast du jemals erlebt, dass jemand als Held angesehen wird, weil er oder sie etwas tut, was jedeR tun kann?
9) Obwohl die Kriegsdienstverweigerung eine Haltung ist, die Befreiung beinhaltet, zieht sie Inhaftierung nach sich. Wo und wie findest du die Quelle, aus der Du die Kraft für diese Haltung schöpfst?
Ich sehe mich als unglücklichen Menschen, weil ich in diesem System integriert leben muss, und gleichzeitig als einen glücklichen Menschen, weil ich dieses System hinterfragen konnte. Ich glaube, dass meine Quelle meine eigene Identität ist, denn es gibt in ihr keinen Schlupfwinkel, in dem ich mich verstecken kann. Als schwuler Bauer und Kurde :) habe ich eine Entscheidung getroffen: den einfachen Weg zu gehen. Anstatt in ständigem Widerspruch mit mir selbst zu leben, versuche ich, meinen Wunsch, mein eigenes Leben zu leben, in die Praxis umzusetzen. Auch wenn ich mich damit gegen das System stelle und dafür einen Preis zahle.
Ich schäme mich für viele Dinge, die in der Welt geschehen, und ich versuche, mich von dieser Scham zu befreien, oder wenigstens ein wenig Last von mir zu nehmen. Ich denke, dass ein Großteil der Dinge, die ich tue, von diesem Schamgefühl herrühren. Es ist so groß, dass die Befreiung davon - auch wenn nur für einige Sekunden lang - den Preis ausgleicht, den ich für diesen Versuch bezahlen muss. Und was ich am 21. Oktober 2001 fühlte, als ich mich als Kriegsdienstverweigerer erklärte, war keine Scham.
Ich hoffe, deine Fragen beantwortet zu haben. Vielen Dank noch mal. Bis dann.
Mehmet Tarhan