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[ 13. Nov 2006 ]

Aktionen zum Migrations AktionsTag 2006 in Deutschland

In Deutschland wurde der Aufruf des Europäischen Sozialforums zu einem Transnationalen MigrationsAktionsTag für Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte von vielen antirassistischen Gruppen und Flüchtlingsorganisationen aufgegriffen.

 

An mindestens 12 Orten fanden Aktionen statt - nicht nur in Großstädten wie Berlin, Hamburg, Köln oder Frankfurt/Main, sondern auch in kleineren Städten wie Freiburg, Lindau oder Görlitz an der polnischen Grenze, sowie direkt an Lagern mitten im Wald wie in Freienbessingen/Thüringen.


Worum ging es bei den Aktionen?


Die Inhalte der Aktionen waren zum Teil ähnlich und bezogen sich auf die EU-Migrationspolitik, die Situation in Herkunfts- und Transitländern, die Toten an den Grenzen und im Meer, Externalisierung, Lager, Abschiebepolitik, Illegalisierung und die Kämpfe von MigrantInnen innerhalb und außerhalb Europas sowie die spezifische Situation in Deutschland. Diese ist geprägt von Zwangsunterbringung aller Flüchtlinge in Lagern, die zwar meist nicht geschlossen sind, aber isoliert fernab von Städten in ehemaligen Kasernen im Wald oder in Industriegebieten am Stadtrand liegen. Der Kontakt sowohl zu Communities von MigrantInnen als auch zur einheimischen Bevölkerung wird von den Behörden bewusst erschwert, um jegliche Integration in die Gesellschaft und damit auch gemeinsamen Widerstand zu verhindern. Die Flüchtlinge erhalten meist nur einen geringen Bargeldbetrag, ansonsten Gutscheine oder Verpflegung bzw. Essenspakete. Sie dürfen im ersten Jahr nicht arbeiten, später erhalten nur einige von ihnen eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis. Bei der Arbeitssuche haben Deutsche, EU-BürgerInnen und AusländerInnen mit gesichertem Aufenthalt Vorrang. Das bedeutet in den meisten Regionen, dass Flüchtlinge keine oder allenfalls illegale Arbeit finden.
Deutsche Besonderheit ist die sogenannte :: "Residenzpflicht", d.h. die Verpflichtung der Flüchtlinge, in dem ihnen zugewiesenen Ort zu wohnen und den Landkreis, in dem er liegt, nicht ohne Erlaubnis zu verlassen. Flüchtlinge kämpfen seit Jahren gegen dieses Gesetz und übertreten es regelmäßig, wofür sie mit Geldbußen und/oder Haft bestraft werden.
Asylanträge werden inzwischen in nahezu 100% der Fälle sehr schnell abgelehnt. Mit Hilfe eines Rechtsanwalts dagegen zu klagen, kostet Geld und ist meist auch erfolglos. Fast 200.000 Flüchtlinge, die trotz Ablehnung ihres Asylantrags bisher nicht abgeschoben werden konnten (z.B. aus gesundheitlichen Gründen oder wegen fehlender Reisepapiere) leben schon lange, viele seit mehr als 10 Jahren, mit einer sogenannten "Duldung" in Deutschland. Dieses Papier ist kein Aufenthaltstitel und die betroffenen Flüchtlinge sind jederzeit von Abschiebung bedroht. Versuche, ein Bleiberecht zumindest für "geduldete" Flüchtlinge durchzusetzen, waren bisher vergeblich. Auf der Konferenz der Innenminister der Länder, die im November stattfindet, soll nun eine – allerdings sehr restriktive – Bleiberechtsregelung beschlossen werden. Deshalb mobilisieren Flüchtlingsorganisationen und antirassistische Gruppen zu dieser Konferenz und :: fordern ein bedingungsloses Bleiberecht und Papiere für alle. Die Forderung nach Legalisierung auch der Papierlosen steht allerdings in Deutschland noch nicht bei vielen Gruppen auf der Tagesordnung und erst recht nicht bei den Regierenden.
Bei einigen Aktionen am 7.10.2006 ging es auch um konkrete regionale und lokale Forderungen und Kämpfe. Zum Beispiel befinden sich Flüchtlinge im :: Lager Blankenburg/Niedersachsen seit dem 4.10.2006 in einem :: Streik gegen die Zwangsverpflegung, die mangelhafte medizinische Versorgung, Schikanen durch das Lagerpersonal und die isolierte Unterbringung und fordern das Recht, in Wohnungen zu leben. (Ergänzung: Der Streik wurde am 31.10. ausgesetzt, aber :: die Proteste gehen weiter.)
In Berlin wurde versucht, vor dem Kaufhaus Dussmann zu demonstrieren, das durch Lieferung von schlechtem Essen von der Lagerpolitik profitiert. Die Polizei verhinderte aber auf Betreiben der Firma, dass eine Kundgebung vor ihrer Tür stattfand. Togoische und afghanische Flüchtlinge sowie Roma forderten ein Ende der laufenden Abschiebungen in ihre Herkunftsländer.


Wer ging am 7.10. auf die Straße?


Aufgerufen hatten zu den Aktionen am 7.10. vor allem antirassistische und nolager-Gruppen, das Netzwerk "kein mensch ist illegal", einige NGOs, die zu Flüchtlingspolitik arbeiten ( "Flüchtlingsräte") sowie Selbstorganisationen von Flüchtlingen und in einigen Orten auch "3.Welt"-Gruppen. Kirchliche Gruppen, Gewerkschaften und Parteien sowie etablierte MigrantInnenorganisationen beteiligten sich nur in geringem Ausmaß bzw. überhaupt nicht an den Aktionen. Mitglieder solcher Organisationen kamen allenfalls als Einzelpersonen zu Demonstrationen, und z.B. in Hamburg verteilte die "Linkspartei" ein eigenes Flugblatt.


Was für Aktionsformen gab es?


Die Aktionsformen reichten von Demonstrationen durch die Innenstadt, z.B. in Hamburg und Köln, über Theateraktionen, z.B. in Potsdam und Görlitz, bis zu Kundgebungen am Zaun von Flüchtlingslagern in Berlin und Thüringen. Die Demonstrationen waren zwar nicht groß, aber bunt und lautstark – dank vieler Transparente, Trommeln, passender Musik, kämpferischer Redebeiträge und der Verteilung eines "globalen Passes" sogar in Hamburg, wo die 6-700 TeilnehmerInnen in strömendem Regen durch die Innenstadt zogen. In Köln traten bekannte Musikgruppen (u.a. Clan Destino) auf. In Frankfurt wurde vor dem Eingang der Internationalen Buchmesse ein Grenzzaun aufgebaut. In Lindau am Bodensee landeten "Bootsflüchtlinge ". In Freiburg wurden Fußspuren von Papierlosen aus Papier auf den Gehwegen der Innenstadt hinterlassen. In Berlin verbot die Polizei nicht nur die Kundgebung vor Dussmann, sondern auch Ballspiele mit Kindern vor dem Flüchtlingslager und die Verteilung von Essen von einem Tisch aus.


Was waren die Ergebnisse und Auswirkungen der Aktionen auf die Gesellschaft?


EU-Migrationspolitik ist ein Randthema in Deutschland. Die AsylbewerberInnenzahlen gingen im Vergleich zum Vorjahr um fast 35% zurück. Über die wachsende Zahl Illegalisierter machen sich nur wenige Gedanken. Trotz oder auch wegen einiger Medienberichte in den letzten Wochen über Bootsflüchtlinge auf den Kanarischen Inseln, die das Bild einer Invasion vermittelten, reagierten am 7.10. die meisten PassantInnen, zumindest auf der Hamburger Demonstration, mit Desinteresse bis Ablehnung. In anderen Orten gab es positivere Erfahrungen. In den Medien, mit Ausnahme alternativer Websites (indymedia, noborder etc.), fanden die Aktionen nur in den Lokalteilen weniger Zeitungen Beachtung. Auf lokalen Widerstand von Flüchtlingen wurde von den Behörden mit Repression reagiert. Trotzdem haben Aktionen wie die am 7.10. eine Bedeutung, vor allem für die Selbstorganisation von Flüchtlingen und die Entwicklung von gemeinsamen Diskussionen, Strukturen und Aktionsformen zusammen mit Nicht-Flüchtlingen. Dabei über den Tellerrand von Deutschland, ja auch von Europa, hinauszuschauen, macht Mut und gibt neue Anregungen. Und vielleicht irgendwann auch mehr Stärke.

Dieser Artikel von Conni Gunsser, Flüchtlingsrat Hamburg und nolager-Netzwerk wurde für die Zeitschrift "Diagonal" Spanien vom 16.10.2006 verfasst und findet sich :: als pdf auf :: fluechtlingsrat-hamburg.de