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[ 04. Jan 2007 ]

... und ihr meint, ihr seid das Wissen der Welt?

Wikipedia Screenshot

Wikipedia ist das größte gemeinschaftlich erstellte Internetprojekt der Welt - Multilingual, virtuell und unbezahlt...

 

Die multilinguale Internet-Enzyklopädie Wikipedia kann wohl problemlos als das größte unbezahlte Gemeinschaftsprojekt der Welt bezeichnet werden. Die englische Ausgabe durchbrach vor kurzem die 1,5 Millionen Artikel Marke, die deutschsprachige Ausgabe vollendete soeben ihren 500.000sten Artikel. Durch die Übertragung des Konzepts einer Enzyklopädie auf das Medium Internet, wird ein derartiger Umfang überhaupt erst möglich, woraus eine Vielfalt an Themen resultiert, die gedruckte Nachschlagewerke aus Kostengründen nicht erreichen können.

Offener Zugang


Durch den vergleichsweise offenen Zugang hebt sich die Wikipedia von anderen Enzyklopädien positiv ab. Alle LeserInnen der Artikel können Inhalte verändern und auch selbst neue Texte, Bilder, Videos und Audiodateien beisteuern. Doch auch wenn sie immer als eine Mitmach-Enzyklopädie gehandelt wird: ganz so leicht ist es für die meisten Menschen dann doch nicht Zugang zu finden. Da gilt es, sich zuerst mit der Technik, dem Seitenaufbau und der Funktionsweise vertraut zu machen und fremde Wissensproduktion durch eigene Beiträge in Frage zu stellen. All das kostet Überwindung.

Wikipedia bietet die Möglichkeit, Themen digital aufzubereiten und sinnvoll miteinander zu vernetzen. Dabei handelt es sich oftmals um Themenbereiche, die von vielen Menschen sonst nicht wahrgenommen würden. So öffnet Wikipedia auch Freiräume, die neue Sichtweisen abseits des gesellschaftlichen Mainstreams zulassen und neue Denkmuster fördern. Nennenswerte Beispiele hierfür bieten die Bereiche Rechtsextremismus, Rassismus, aber auch Artikel zur Geschichte einer Vielzahl politischer Bewegungen und ihren jeweiligen Aktionsformen.

Dieser begrüßenswerte Prozess findet allerdings in einem eng gesteckten Rahmen statt. So können die großen Grunddogmen der Wikipedia mit den Worten "Neutralität" und "Relevanz" zusammengefasst werden. Während der durchaus verschieden auslegbare Begriff "Neutralität" oftmals kritische Texte zu reiner Herrschaftsaffirmation verkommen lässt, folgt auf das Urteil "mangelnde Relevanz" zumeist die Löschung ganzer Artikel.

BILD-Zeitung und die Jagd nach dem Plagiat


In letzter Zeit war die Internet-Enzyklopädie Wikipedia zunehmend Gegenstand medialer Kritik. So wurden Manipulationen bei einzelnen Biografien aufgedeckt und großflächig angelegte Abschreib-Aktionen (wie etwa aus Lexika der DDR) thematisiert. Zu den Plagiats-JägerInnen gesellten sich auch die Medienwissenschaftler Stefan Weber und Martin Löffelholz. Seit einigen Wochen ruft sogar die selbst nicht immer ganz seriöse deutsche BILD-Zeitung ihre LeserInnen zur Fehlersuche in der Enzyklopädie auf.

Eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Inhalten der Wikipedia sowie ihrer Rezeption durch die NutzerInnen der Enzyklopädie sucht man in der massenmedialen Berichterstattung hingegen vergebens. Das Aufzeigen struktureller Probleme, wie der geringen Beteiligung von Frauen und der gründsätzlichen Ablehnung geschlechtssensibler Schreibweise, findet nur im geringen Umfang und dann vor allem in alternativen Medien statt. Der vorherrschenden Kritik gemein ist zumeist die Sehnsucht nach dem Schritt zurück zur vermeintlich guten alten Zeit - als Enzyklopädien von kleinen wissenschaftlichen Eliten geschrieben wurden, die gerne auch heute noch die Wahrheit für sich beanspruchen würden. Wikipedia-Mitgründer und -Aussteiger Larry Sanger arbeitet in diesem Zusammenhang an einer von ExpertInnen geleiteten neuen Internetenzyklopädie mit Redaktions ähnlichen Strukturen. Und auch innerhalb der Wikipedia werden zunehmend QualitätswächterInnengremien diskutiert, die den offenen Zugang einschränken würden.

Pol Pot und die Weisheit der Massen


Der Digitalvisionär Jaron Lanier warnt in der Zeitschrift "Der Spiegel" vor einem "gefährlichen Glauben an die Weisheit der Massen". Dies sei - so Lanier - der "Fehler in allen totalitären Ideologien, vom Nazi-Regime über Pol Pot bis zu den Islamisten". Durch seinen NS-Vergleich zeigt der Kritiker jedoch, dass er der dem kritisierten Objekt letztendlich näher steht, als er es wahrhaben will. Liegen die Schwächen der Internet-Enzyklopädie doch nicht zuletzt in geisteswissenschaftlichen Bereichen wie Geschichte oder Soziologie.

Eher selten sind hingegen kritische Stimmen, die es prinzipiell begrüßen, dass die Sammlung von Wissen durch eine große Masse von Menschen bewerkstelligt wird und Wikipedia als neuen Freiraum abseits der elitären Paläste der Wissenschaften akzeptieren. Doch genau diese Einsicht müsste Grundbedingung sein, wenn ein Gemeinschaftsprojekt wie die Wikipedia einer emanzipatorischen Kritik unterzogen werden soll. Während die Form durchaus als revolutionär bezeichnet werden kann, sind viele Inhalte in den Rassismen, Sexismen und Antisemitismen dieser Gesellschaft verhaftet. Hier gibt es auch kein Gegensteuern durch Grundsätze die versuchen würden solche vermeintlichen "Nebenwidersprüche" aufzulösen. Doch genau an diesem Punkt müssten wir ansetzen um die bestehenden Freiräume zu erhalten und auszuweiten und so vielleicht auch die derzeitigen Strukturen in Frage zu stellen.

Plattform für kritische WikipediaUserInnen: wiki-kritik (at) pulk.net

Dieser Artikel erschien erstmals in "UNIQUE - Magazin der ÖH Uni Wien" (Dezember 2006) und wurde von uns mit freundlicher Genehmigung der Autoren übernommen.