Nach Repression und Spaltungs- versuchen hat die soziale Bewegung, ein Jahr nach ihrer Entstehung, wieder an Mobilisierungskraft gewonnen. Für die zweite Julihälfte sind energische Aktionen angekündigt, im August sind Lokalwahlen.
Die soziale Bewegung in Oaxaca hat ein schwieriges halbes Jahr hinter sich. Die Kräfte in den Monaten nach der Repressionswelle im November wurden darauf konzentriert, der grossen Revanche der PRI möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und die in die Zielscheibe der Repression geratenden Compas in Sicherheit zu bringen. Und die über 200 Gefangenen wieder rauszukriegen, heute sind noch acht Personen in Haft.
Hinzu kamen interne Machtkämpfe innerhalb der in der "Versammlung der Völker von Oaxaca" (APPO) wie auch in der LehrerInnengewerkschaft (Sección 22). Insbesondere in der APPO wurden die Differenzen auch schon mal mit Fäusten ausgetragen, Führungsansprüche und ideologische Divergenzen zwischen marxistischen, magonistischen, indigenen und Stadtteilgruppierungen aller couleur traten verstärkt zutage. Die Defensive, in der sich die Bewegung befand, erschwerte das Aufdecken dieser Ränkespiele einzelner Gruppierungen und AnführerInnen. In der Phase der sogenannten "commune von Oaxaca" von Juli bis November 2006 waren dank der von der organisierten Bevölkerung besetzten Radiostationen solche Versuche der Vereinnahmung der Bewegung zum Scheitern verurteilt, da sofort alle in den Radios davon erfuhren.
Erfolgreiche Megamarcha, neuer Plantón
Am 14. Juni fand eine erfolgreiche Megamarcha statt, mit der 200.000 Leute dem 14. Juni 2006 gedachten: Vor Jahresfrist versuchte die Regierung Ruiz, den LehrerInnenstreik gewalttätig mit Hilfe von 3.000 Polizisten niederzuschlagen. Die Bevölkerung von Oaxaca Stadt solidarisierte sich jedoch mit den LehrerInnen, und nach siebenstündiger Schlacht waren die Polizisten aus der Stadt vertrieben. Kurz darauf wurde die APPO gegründet, eine Koalition aller organisierten Kräfte, fünfeinhalb Monate der Stadtbesetzung folgten, in denen die Bewegung weit über diese organisierten Gruppierungen hinaus wuchs. Man erinnere sich nur an die mehreren tausend Barrikaden, die zwischen August und Oktober Nacht für Nacht in einer Art verlängertem Volksfest zwischen NachbarInnen organisiert wurden. "Son de la Barricada" und andere Volkslieder zeugen von dieser Zeit der Anarchie.
Doch Ulises Ruiz überlebte auch diese Mobilisierungsphase. Heute geht es um mehr als seinen Rückritt: Um die Wiederaufnahme des Protests gegen die jahrzehntelange Korruption und Repression, aber unter den verschärften Bedingungen im militarisierten Mexiko unter Felipillo (dem kleingewachsenen Felipe Calderón), der unter dem Vorwand des Kriegs gegen die Drogenmafia vorsorglich ganze Regionen mit Militärkordons überzieht, insbesondere dort, wo soziale Unrast droht.
Die Megamarcha der APPO am 14. Juni, die symbolischen Barrikaden für die Gefallenen – aber auch eine Barrikade bei der Uni von den "jungen Wilden", von deren Aktion sich die APPO prompt distanzierte - sorgten für ein Revival der Bewegung. "Es war wie in den besten Zeiten der APPO", kommentierte eine Freundin vor Ort die bunte, 10 km lange Demo. Am Montag darauf, dem 18. Juni, besetzten APPO und LehrerInnengewerkschaft erneut den Zocalo, den Hauptplatz von Oaxaca Stadt. Dieser neue "Plantón" ist zeitlich unbeschränkt, solange die Forderungen an die Zentralregierung nicht erfüllt sind. Das heisst, Freilassung der Gefangenen, Aufhebung der Haftbefehle, Aufklärung der Verbrechen und Morde gegen die Bewegung und Bestrafung der Täter, eine grundlegende Staatsreform sowie die komplette Erfüllung der gewerkschaftlichen Forderung wie neue Lohnstrukturen im Bildungssektor. Die Verhandlungen sind im Gange, aber bisher erfolglos.
BeobachterInnen berichten, die Leute seien sehr glücklich, dass die Bewegung wieder sichtbar wird, dass das Zentrum wieder besetzt ist, kommen vorbei, diskutieren. Anfangs war der Plantón bescheiden, ein paar Tausend besetzten per Demo das Zentrum, wenige Hundert übernachteten auch dort. Doch seit die PRI und die mit ihnen verbündeten Geschäftsleute mit der eigenhändigen Räumung drohen, wird die Besetzung verstärkt. Ein erster angedrohter Räumungsversuch für den 30. Juni wurde kurzfristig wieder abgeblasen. Doch die APPO denunziert, der Gouverneur bezahle junge Leute dafür, um den Protest anzugreifen, er plane ein "Halconazo". "Halcones", "Falken" wurde ein angeheuerter Schlägertrupp der Regierung Echeverría genannt, der 1971 gezielt eine StudentInnendemo (die erste nach dem Massaker von 1968) angriff, erst mit Stöcken, dann mit Pistolen. Auch werden nach wie vor selektive, aber gezielte Repressionsschläge geführt, insbesondere die AnwältInnen des "Comité de Liberación 25 de noviembre" sind bedroht, welche sich um die juristische Betreuung der Gefangenen und der juristischen Verfahren der unter Kaution Freigelassenen kümmern. Ganz zu schweigen von der andauernden politischen Gewalt auf dem Land.
Kräftemessen in den nächsten Wochen
Die Gewerkschaft der LehrerInnen stellte dem Innenministerium ein Ultimatum: Sollten ihre Forderungen bis 16. Juli nicht erfüllt sein, dann würden sie nicht nur "repräsentativ" wie jetzt, sondern massiv mit der Basis ihrer insgesamt 70.000 Mitglieder den Plantón verstärken und weitere Kampfmassnahmen ergreifen. Ebenfalls am 16. Juli wird ein grosses Fest der APPO stattfinden, die Guelaguetza popular. An einer solchen Gegenveranstaltung zur geplanten offiziellen Guelaguetza nahmen vor einem Jahr 10.000 Leute teil. Die Guelaguetza ist der traditionelle festliche Höhepunkt des an Feiern nicht armen Oaxaca. Doch die indigene Fiesta mit ihren Trachten und Tänzen wurde schon seit Jahren zum exklusiven Anlass für Oligarchie und zahlungskräftige Touristas. Wie letztes Jahr sollen deshalb auch heuer die offiziellen Varianten des Volksfestes an den beiden letzten Montage im Juli "boykottiert", sprich aktiv verhindert werden.
Wenige Tage darauf finden am 5. August Lokalwahlen für das Parlament statt. Die APPO hat zu einem "voto de castigo", einer Abstrafung von PRI und PAN aufgerufen. Eigene KandidatInnen gibt es nicht, wobei wenige Führungsfiguren von sozialen Organisationen, die in der APPO aktiv sind, sich von PRD und anderen kleineren Oppositionsparteien aufstellen liessen. Dies führte zu grossen Reibereien innerhalb der APPO, den KandidatInnen wurde Opportunismus und Systemtreue vorgeworfen. Der Streit flachte ab, da auf den vorderen, chancenreichen Listenplätzen auch bei der PRD meist bewegungsfremde, systemtreue Personen positioniert wurden. Und wo das nicht so war, da sprachen schon mal die Pistolen, so geschehen bei den Morden an zwei Oppositionspolitikern an der Küste und in der Region der Triqui-Indígenas. Das zeigt: Für die Oligarchie geht's um Vieles, schlicht um den Erhalt der Pfründe und der politischen Kontrolle des Bundesstaates. Und um weitere Straflosigkeit: Auf den vordersten Plätzen der PRI-Wahlliste stehen die Drahtzieher der Repression, darunter Lizbeth Caña, die Generalstaatsanwältin, welche die APPO als "eine Art urbane Guerilla" beschimpfte und die Polizeieinheiten in Manier von Todesschwadronen agieren liess.
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Vielleicht gerät Ulises Ruiz doch auch im Unrechtsstaat Mexiko auch noch von oben unter Druck: Das mexikanische Verfassungsgericht – das im Mai überraschend das "Ley Televisa" genannte Knebelgesetz gegen die Pressefreiheit für verfassungswidrig erklärte - entschied Ende Juni, eine Untersuchungskommission zu Oaxaca ins Leben zu rufen. Die 11 obersten Richter wollen die Ereignisse und Menschenrechtsverletzungen zwischen Juli 2006 und Januar 2007 untersuchen und wollen dabei die Verantwortlichkeiten der Regierung Ruiz, aber auch der Zentralregierungen Fox und Calderón klären. Vielleicht kommt dann doch noch ein Amtsenthebungsverfahren gegen Ruiz in Gang, der bis 2010 weiterregieren möchte. Und vielleicht wird eine Staatsreform aufgegleist, welche wirklich neue Spielregeln setzt.
Ob die Oaxaqueñas und Oaxaqueños noch diese Hoffnung auf Rechtsstaatlichkeit haben, darf bezweifelt werden. Der Ex-Bischof von Süd-Oaxaca, Arturo Lona Reyes, warnte kürzlich in der Jornada (Anm.: linke Tageszeitung in Mexiko), dass die von der Zentralregierung versprochenen grundlegenden Reformen des Bundesstaates die "ultima llamada", die absolut letzte Chance seien, bevor in Oaxaca eine bewaffnete Revolte losbreche. Er illustriert dies mit einer Begegnung auf dem Land: "Ich war kürzlich mit einem Bauern unterwegs, der seine Machete dabei hatte, und im Gespräch fragte ich ihn: "Hör mal, und wenn sich eine Guerilla mit Macheten erheben würde?" Und was glaubt ihr, hat er geantwortet? "Wann, Pater, wann?"
Ein Artikel für den Correos de Las Américas vom Juli 2007 und für antidot - die neue Wochenzeitung der widerständigen Linken :: www.antidot.ch
Der Artikel erschien zuerst auf de.indymedia.org am 05.07.2007, bearbeitet von no-racism.net