73 Menschen aus Eritra, Äthiopien und Nigeria finden im Kanal von Sizilien im August 2009 den Tod, weil weder Malta noch Italien zu einer Rettung bereit sind. Drei lange Wochen lässt man sie wissentlich verhungern, verdursten und ertrinken. Die Interessen- gemeinschaft "boatpmalital", gegründet von Verwandten der Opfer, will gegen dieses unmenschliche Handeln Europas vorgehen und die Leichen der Verstorbenen finden.
"Ich rief in Tripolis an, bei einem Bekannten meines Bruders, und bat ihn, meinen Bruder ans Telefon zu holen. Er sagte, ruf morgen nochmal an. Als ich wieder anrief, war er schon unterwegs, nach Europa." G.I. ist Eritreerin, Mitte 40 und lebt seit ihrer Jugend in Deutschland. Sie moechte ihren Namen nicht nennen. Mitte August 2009 ruft sie bei borderline-europe Sizilien an. Sie sucht ihren Bruder, der am 28. Juli in Libyen ein Boot nach Europa bestiegen hat. Seit dem wird er vermisst.
Er ist jung, in den Sudan gefluechtet, da er zu Hause in Eritrea Probleme hatte, lebt eine Zeit lang im Sudan. Seine Mutter schickt ihm Geld, damit er sich Papiere machen lassen kann, doch er nutzt es, um weiter nach Libyen zu reisen. Hier sagt man ihm, er solle einen Asylantrag stellen. Er bekommt einen Termin im Vertretungsbuero der Vereinten Nationen - am 10. Januar 2010. Doch Libyen ist nicht sicher genug, um hier so viele Monate auszuharren. Immer wieder gibt es Razzien, Fluechtlinge verschwinden auf Nimmerwiedersehen in Gefaengnissen. Er entschliesst sich zur Flucht nach Europa.
Wir verneinen, von einem Schiffbruch gehoert zu haben, auch von einer Zurueckweisung auf See nach Libyen ist bisher nichts bekannt. Ebenso ergeht es ihr bei der italienischen NGO Fortress Europe. "Wir konnten uns nicht vorstellen, dass das Boot seit mehr als zwei Wochen manoevrierunfaehig im Kanal von Sizilien trieb, ohne dass sich jemand gekuemmert haette. Wir haben uns getaeuscht", so Gabriele del Grande von Fortress Europe.
Fuer A.I. beginnt eine Odysee durch Organisationen in Malta, Italien und Libyen. Eine deutsche Nichtregierungsorganisation hilft ihr, die Behoerden und Vereinigungen zu kontakten.
"Am 29. Juli riefen die Fluechtlinge auf dem Boot einen Bekannten mit dem Satellitentelefon an. Da habe ich das letzte Mal ein Lebenszeichen von meinem Bruder erhalten. Sie seien kurz vor Malta, sagen sie." Doch dort kommen sie nie an. An Bord befinden sich 78 Eritreer und Aethiopier . Das letzte Mal melden sich die Fluechtlinge am 3. August bei einem Eritreer auf Malta: " Wir treiben, einer nach dem anderen stirbt! Wir sind in der Naehe von Malta, schickt uns Hilfe." Der Eritreer informiert die maltesischen Behoerden, die angeblich rausfahren und nichts finden. Die Aufnahmelager in Malta bestaetigen inzwischen, dass es keinerlei Ankuenfte zwischen dem 25. Juli und dem 12. August gegeben habe. Weitere Tage vergehen.
Am 22. August erhaelt die Leitstelle der Guardia di Finanza (Zoll) im sizilianischen Messina die Nachricht, dass die Malteser ein Schlauchboot gesichtet haetten, es befinde sich ca. 19 Seemeilen vor Lampedusa, an der Grenze zum italienischen Seenotrettungs-Gebiet. "Seit einigen Tagen beobachte Malta, dass ein Boot mit Fluechtlingen treibt", so die Meldung der Behoerden, doch keinerlei Aussagen dazu, wie lange es schon beobachtet wird, ohne zu retten. Die italienische Nachrichtenagentur ANSA beruft sich auf die Aussagen der AFM, der Armed Force of Malta: Ein Boot "sei von einem maltesischen Schiff lokalisiert worden, nachdem ein Militaerflugzeug einer FRONTEX-Einheit mit Sitz auf Malta die Fluechtlinge gesichtet hatte. Es habe die nach internationalen Standards noetige Versorgung gegeben." Die Malteser, so ANSA, "haetten die Fahrtrichtung nicht beeinflusst. Das Boot sei dann den italienischen Behoerden gemeldet worden."
Diese weitere Nichtrettung durch Malta erinnert sehr an die Ereignisse um das tuerkische Frachtschiff PINAR im Fruehjahr 2009. Der Kapitaen hatte ueber 150 Fluechtlinge gerettet und an Bord genommen, doch niemand wollte die Menschen aufnehmen, tagelang trieb er mit seiner menschlichen Fracht im Mittelmeer. 12 Seemeilen vor Lampedusa, auf der Grenze zu den italienischen territorialen Gewaessern, retten italienische Einheiten am 22. August nach mehr als drei Wochen Fahrt die fuenf Ueberlebenden, eine Frau, zwei Maenner in den Zwanzigern und zwei Minderjaehrige, alle aus Eritrea. Sie werden nach Lampedusa gebracht, sind in einem schlechten gesundheitlichen Zustand.
Was ist wirklich geschehen?
Die Eritreer berichten, dass das Schiff der maltesischen Marine ihnen Treibstoff, Schwimmwesten , ein bisschen Brot und Wasser brachten. "Sie starten uns den Motor erneut, wir waren zu schwach dazu. Dann sagen sie, wir sollen Richtung Nord-Ost weiterfahren, Richtung Lampedusa", berichtet einer der Geretteten dem italienischen Journalisten Francesco Viviano. Er glaubt den Fluechtlingen. Viviano kennt diese Ereignisse nur zu gut, hat er doch Tage auf der dem deutschen humanitaeren Rettungsschiff Cap Anamur, die 2004 37 Menschen rettete, und auf der PINAR verbracht. Doch die Malteser bestreiten die Aussagen der Eritreer, alles Luegen seien das, sie seien in sehr gutem Zustand gewesen, als man ihnen Wasser und Treibstoff brachte. Eine unglaubliche Verdrehung der Tatsachen, sieht man diese Menschen nur zwei Tage spaeter in Lampedusa anlanden: Sie sind zu schwach zum Gehen, zwei von ihnen werden nach Sizilien ins Krankenhaus geflogen, ihr Zustand ist bedenklich.
Der Skandal
Immer klarer wird das Geschehene. Die fuenf Fluechtlinge sind absolut glaubwuerdig, auch die AFM bestaetigt schliesslich ihr eigenes Vogehen. Malta hat wissentlich Menschenleben riskiert, damit die Fluechtlinge nicht auf der Insel aufgenommen werden muessen. Der Inselstaat "kontrolliert" ein enormes Seenotrettungs-Gebiet (SAR), das fast die Groesse Italiens hat. Das erbost besonders die italienische Regierung, da bekannt ist, dass die Malteser das Gebiet nicht ueberwachen. Doch auch FRONTEX und der italienische Staat sind in der Verantwortung. Erstere, da sie sichten und nicht retten. Die italienische Regierung indes verbietet es den Einheiten der Kuestenwache und der Guardia di Finanza, wie noch im letzten Jahr auch in einer Zone 90-60 Seemeilen um Lampedusa zu patrouillieren. Niemand soll mehr gerettet und aufgenommen werden, so der eiserne Wille des italienischen Innenministers Maroni. Malta versucht, die Fluechtlinge Richtung italienische Gewaesser abzudraengen, damit sie sie nicht aufnehmen muessen. So schiebt Europa die Fluechtenden auf See hin und her und laesst sie gegebenenfalls auch sterben, Hauptsache, sie landen nicht an.
Und die Folgen dieser Abschottungspolitik: mehr als 10 Fischerboote haetten sie gesichtet, berichten die ueberlebenden Eritreer, aber nur eines habe gehalten und ihnen Wasser und Nahrungsmittel gegeben. Gemeldet hat kein einziges Boot den Vorfall, aus Angst vor Repressalien.
Die Kirchenzeitung "Avvenire" zieht gar den Vergleich mit der Schoah: "Der Westen hat die Augen zugemacht, er wollte das Boot mit den Eritreern (...) nicht sehen, wie zu Zeiten des Naziregimes, in denen niemand die verplombten Zuege mit den Juden gesehen hat. (...) Keine Immigrations-Kontrollpolitik rechtfertigt (...), ein Fluechlingsboot seinem Schicksal zu ueberlassen."
Die Staatsanwaltschaft im sizilianischen Agrigento hat indessen die Ermittlungen aufgenommen. Sie glaubt den Ausfuehrungen Maltas nicht. Interessant auch fuer den Fall der Cap Anamur: wird staatliche Nicht-Rettung nun bestraft? Die Angeklagten der Cap Anamur erwarten am 7. Oktober das Urteil, gefordert fuer die als Beihilfe zur illegalen Einreise deklarierte Rettung der 37 Bootsfluechtlinge sind vier Jahre Haft und 400.000 € Strafe.
Zurueckweisung auf See
Nicht nur die unterlassene Rettung der Fluechtlinge ist ein brisantes Thema, auch die Zurueckweisungen auf See stehen nun auf dem Pruefstand. Am 23. August bestaetigt die Guardia di Finanza laut der italienischen Tageszeitung La Repubblica, Fluechtlinge auf See auf Geheiss der italienischen Regierung zurueckzuschieben. Seit Mai 2009 ist das Abkommen mit Libyen in Kraft, das die Bootsfluechtlinge zuruecknimmt und inhaftiert. Die Staatsanwaltschaft in Agrigento hat auch hier Untersuchungen eingeleitet und sich die top-secret Akten der "fiamme gialle", wie die Guardia di Finanza aufgrund des Logos genannt wird, schicken lassen. 14 Zurueckweisungen hat es demnach seit Mai gegeben, 11 davon in Gewaessern mit maltesischer Seenotrettungs-Zustaendigkeit, da sich die Malteser nicht um die Boote kuemmern. Die Italiener wollen aber um jeden Preis verhindern, dass die Fluechtlinge auf Lampedusa anlanden. Doch nach nur wenigen Tagen der Pruefung will die Staatsanwaltschaft laut der italienischen Tageszeitung L'Unità keine weiteren Untersuchungen durchfuehren. "Erst wenn uns jemand sagt, dass es keine Identifizierung an Bord oder gar Misshandlungen gab bei der Zurueckschiebung greifen wir ein. Bisher ist das nicht geschehen", so Staatsanwalt Di Natale.
Am 24. August verhoert Staatsanwalt Santo Fornasier, der auch die Anklage im Fall Cap Anamur vertritt, die drei Eritreer, die in der Provinz Agrigento untergebracht sind. Sie bestaetigen alles bisher Gesagte und bekraeftigen, dass sie einen Asylantrag stellen wollen. Der Asylantrag wuerde sie aus dem Register der illegal Eingereisten streichen lassen. Hier, so die Staatsanwaltschaft, muessen alle eingetragen werden, die ohne Erlaubnis nach Italien einreisen. Illegale Einreise wird inzwischen als Straftat in Italien geahndet. Das hiesse also, dass diese fuenf Ueberlebenden ohne Stellung eines Asyalntrages mit einer Strafverfolgung rechnen muessten.
All das ist fuer G.I. wichtig, auch wenn es, wie sie sagt, ihren Bruder nicht mehr lebendig macht. Er war einer der 78 Fluechtlinge auf dem Geisterboot, das drei Wochen lang "ungesehen" durch das Mittelmeer duempelte. Als sie die Fotos der Geretteten sieht, ist sie ueberzeugt, ihr Bruder sei einer von ihnen. Doch leider bestaetigt sich diese Hoffnung nicht. Sie hat Kontakt zu Hunderten von Eritreern im Ausland aufgenommen, auch zu den Familien der Opfer. Sie wollen gegen dieses unmenschliche Handeln Europas vorgehen. Aber das Wichtigste fuer sie ist, den Leichnam ihres Bruders zu finden, um ihn beerdigen zu koennen. Sie will mit den Ueberlebenden sprechen. Diese sind inzwischen nach Sizilien ins Krankenhaus sowie in Unterkuenfte fuer Minderjaehrige und fuer Erwachsene gebracht worden. Sie hofft, dass sie ihr sagen koennen, was ihr Bruder fuer Kleidung getragen hat, damit man ihn daran identifizieren kann.
Acht Leichen wurden inzwischen im Meer treibend von deutschen FRONTEX-Hubschraubern gesichtet. Doch nicht einmal diese will man bergen.
Artikel von Judith Gleitze, borderline-europe Sizilien, zuerst veröffentlicht am 25. Aug 2009 auf :: borderline-europe.de