Ein Afghane erzählt Asylbeamten von sexuellem Missbrauch - und landet in Schubhaft. Dort nahm er sich das Leben. Der Flüchtling wurde 16 Jahre alt.
Es war ein Hilfeschrei. 'In Schweden wurde ich mit einem Afrikaner in
ein Zimmer getan, und ein Inder war im Parallelzimmer. Der Inder hat mich missbraucht', sagte Reza Haidari bei seiner Einvernahme am Bundesasylamt in Traiskirchen. Das war am 20. Mai 2010. Zweimal wies der Asylwerber aus Afghanistan die Beamten auf den sexuellen Missbrauch hin. Trotzdem wurde der 16-Jährige in Schubhaft genommen. Er sollte nach Schweden abgeschoben werden, in das Land, in dem er um Asyl angesucht hatte - und in dem er angeblich missbraucht worden war. Laut Dublin-Verordnung werden Asylwerber in andere EU-Mitgliedsstaaten zurückgeschickt, selbst wenn sie minderjährig oder traumatisiert sind.
Zwei Monate nach der Einvernahme, am 19. Juli 2010, war Haidari tot. Er starb an den Folgen eines versuchten Selbstmords, den er in der Nacht von 4. auf 5. Juni im Polizeianhaltezentrum Hernals verübte.
Das Innenministerium teilte der Öffentlichkeit bislang nicht mit, dass der Minderjährige einige Wochen nach seinem Selbstmordversuch in der Schubhaft in einem Pflegeheim starb. Erst jetzt, neun Wochen später, konnte der Falter seinen Tod aufdecken. Haidaris Hinweise auf Missbrauch wurden ignoriert. Stattdessen stellte das Bundesasylamt am 19. Juli, Haidaris Todestag, das Asylverfahren in erster Instanz ein.
10.000 Euro habe seine Flucht gekostet, erzählte der Hirtenjunge den Asylbeamten. Der Vater habe ein Grundstück verkauft und sich zusätzlich verschuldet, um dem Sohn die Flucht aus einem Land zu ermöglichen, in dem die islamistischen Taliban im Krieg gegen den Westen stehen.
Bevor er in Österreich in Schubhaft kam, hatte der Jugendliche eine
einjährige Odyssee hinter sich. Von Besud war er in die afghanische
Hauptstadt Kabul gereist, von dort mit einem Schlepper weiter in den Iran.
Er marschierte zu Fuß bis in die Türkei, kam per Schiff nach Italien,
von dort nach Österreich. 'Von Österreich bin ich wieder nach Italien
ausgewiesen worden. Von Italien bin ich über Deutschland nach Schweden
gereist', gibt er in seinem Einvernahmeprotokoll an. Am 29. Dezember
2009 war er in Göteborg. Dann sei er trotz seines geringen Alters in eine Erwachseneneinrichtung gesteckt worden. Ein Asylwerber habe ihn
missbraucht, die schwedische Polizei ihm nicht geholfen. 'Ich bin zur
Polizei gegangen, und sie haben gesagt, wenn das wieder passiert, soll ich wiederkommen', gibt er zu Protokoll. Also flüchtete Haidari erneut nach Österreich.
Aber auch hier nehmen die Beamten des Bundesasylamts den Missbrauch nicht zur Kenntnis. Stattdessen gehen sie mit dem Jugendlichen einen standardisierten Fragekatalog durch. Danach schreibt ein Beamter 'Schubhaft' auf das Einvernahmeprotokoll. Dabei fordert auch der im Innenministerium angesiedelte Menschenrechtsbeirat, Minderjährige und Traumatisierte nicht in eine solche Polizeihaft zu stecken.
Nach zwei Wochen in Haft siegt die Verzweiflung. Mitten in der Nacht wickelt Haidari sein Leintuch um das Fenstergitter, verknotet es und hängt sich daran auf. Noch um 2.15 Uhr in der Früh geht ein Wachebeamter auf Kontrollgang, bemerkt laut Polizei jedoch nichts Ungewöhnliches.
Etwa 15 Minuten später schlagen Mithäftlinge Alarm. Haidari ist bereits bewusstlos, er wird mit der Rettung ins AKH gebracht, dort versetzen ihn die Ärzte sofort in künstlichen Tiefschlaf. Doch die Schäden am Gehirn sind zu groß. Der Jugendliche wird zwar einige Wochen nach der Einlieferung ins AKH in eine Pflegeeinrichtung in Niederösterreich verlegt, dort stirbt er aber nach wenigen Tagen.
'Sexueller Missbrauch ist extrem mit Scham besetzt. Das zu erzählen
fällt einem jungen Afghanen sicher sehr schwer', sagt Cecilia Heiss,
Psychologin und Geschäftsführerin von Hemayat, einem Zentrum für
Folter- und Kriegsopfer. Umso schlimmer sei es, wenn die Beamten das nicht ernst nehmen. 'Wird ein Trauma von der Umgebung nicht anerkannt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass daraus eine psychische Störung entsteht', sagt die Psychologin.
Noch ein drittes Mal schilderte Haidari bei seiner Einvernahme seine
Angst, nach Schweden abgeschoben zu werden. Als die Beamten ihn fragen: 'Wenn Sie in dieses Land zurückkehren müssten und Ihr Asylverfahren dort weitergeführt würde, spräche etwas dagegen?', antwortete der 16-Jährige: 'Ich habe meine Ehre und mein Gesicht verloren, bevor noch mehr Schande über mich kommt, ist es besser, in die Heimat abgeschoben zu werden.' Auch darauf gehen die Beamten nicht ein.
'Es ist ein Skandal, dass die Polizei einen traumatisierten
Minderjährigen, der von Missbrauch berichtet, in Schubhaft steckt',
kritisiert Heinz Fronek von der Asylkoordination, der den Fall
nachrecherchiert hat. Noch dazu, wo Haidari extrem kooperativ war, die
Fluchtroute schilderte und Namen der Schlepper bekanntgab. 'Das zeigt,
dass die rechtliche Vertretung Minderjähriger im Asylverfahren nicht
funktioniert', meint Fronek, 'es war niemand da, der für den
Jugendlichen Partei ergreift.'
Rudolf Gollia, Sprecher des Innenministeriums, sagt, er könne zu diesem Einzelfall nicht Stellung nehmen, und verweist auf die Bezirkshauptmannschaft Baden. Alexandra Grabner-Fritz, Bezirkshauptmann-Stellvertreterin von Baden, beruft sich auf die Amtsverschwiegenheit. Der Fall Haidari sei aber ein 'absoluter Standardfall' gewesen: 'Es war kein Jugendlicher, und die Schubhaftgründe lauteten Mittellosigkeit, keine Unterkunft und ein aufrechtes Aufenthaltsverbot.' Wieso der junge Afghane plötzlich volljährig gewesen sein soll, verrät Grabner-Fritz nicht. Ihre Darstellung widerspricht dem Einvernahmeprotokoll vom 20. Mai 2010, wo er als 16-Jähriger geführt wird. Auch in der Schubhaft galt er als Minderjähriger.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich ein junger Asylwerber aus Angst,
abgeschoben zu werden, das Leben nehmen wollte. Das prominenteste Beispiel ist Arigona Zogaj, die im Oktober 2007 mit Selbstmord drohte, sollte sie in den Kosovo abgeschoben werden. Ebenfalls im Oktober 2007 teilte der damals 18-jährige Dennis Maklele auf dem Stadtplatz von Steyr Flugblätter aus. 'Lieber in Österreich sterben, als nach Nigeria zurück zu müssen', stand darauf. Er hatte gerade seinen negativen Asylbescheid erhalten. Danach rammte er sich ein Messer in den Unterleib. Passanten alarmierten die Rettung, der junge Nigerianer überlebte.
Für Haidari kam hingegen jede Rettung zu spät. Bei seiner Einvernahme
erklärte er den Beamten, er habe sich Österreich als Fluchtland
ausgesucht, weil er ein Leben in Sicherheit suchte. 'Dort, wo ich lebe, herrscht Krieg, und es besteht keine Sicherheit für mich', sagte er.
'Das Liebste, was man hat, ist das Leben, und wenn das Leben in Gefahr
ist, läuft man davon.' Mit diesen Worten erklärte Reza Haidari, warum
er aus Afghanistan geflüchtet war. Am 19. Juli 2010 hat er sein Leben in Österreich verloren.
Dokumentation eines Artikels von Nina Horaczek, erschienen im Falter 37/2010 vom 15.9.2010
http://www.falter.at/web/print/detail.php?id=1225