Dokumentation eines Appells von Personen, die aufzeigen wollen, dass bereits das ständige Sprechen über Integration ein angebliches Anderssein reproduziert und Teile der Gesellschaft unter Generalverdacht stellt
Das Ergebnis der Gemeinderats- und Landtagswahl in Wien vom Oktober 2010 setzt ein deutliches rassistisches Zeichen. Ebenso alarmierend wie der Erfolg der rechtsextremen Positionen der FPÖ sind die zahlreichen populistischen Analysen von Politiker_innen, Meinungsmacher_innen und anderen Expert_innen, die unwidersprochen verbreitet werden.
Ob Bildung, Wohnen oder Arbeitsmarkt - Migration wurde und wird in all diesen Lebensbereichen als Problemfeld inszeniert. Es gehört mittlerweile zum guten Ton in der öffentlichen Debatte, über Migration und Migrant_innen als Konfliktquelle zu sprechen. In Österreich herrscht offenbar ein breiter Konsens darüber, dass auf gesellschaftliche und soziale Probleme rassistische Antworten gegeben werden können. Wir stellen uns gegen diesen Konsens!
Der Anspruch, die Debatte zu versachlichen, greift zu kurz. Wir akzeptieren nicht, dass zwar ständig über Migrant_innen gesprochen und über sie Bescheid gewusst wird, sie aber aus Entscheidungspositionen ausgeschlossen bleiben - unabhängig davon, ob sie längst österreichische Staatsbürger_innen sind oder nicht. Ein verheerendes Missverhältnis drückt sich darin aus, dass auch diese Wahl mit dem Thema Migration entschieden wurde, und zwar unter Ausschluss derjenigen, die in Wien leben und hier nicht wählen dürfen.
Längst ist hierzulande eine Klarstellung fällig: Migration bildet unsere Realität. Die Menschen, die hier leben, sind keine Fremden. Die Sprachen, die hier gesprochen werden, sind keine Fremdsprachen. Alle Jugendlichen, die hier leben, sind unsere Jugendlichen. Nach den Ergebnissen der Wiener Wahl wollen wir daher noch weniger als zuvor über Integration reden. Denn bereits das ständige Sprechen über Integration reproduziert ein angebliches Anderssein, stellt Teile der Gesellschaft unter Generalverdacht und übersieht die Vielfältigkeit der Lebensformen. Stattdessen wollen wir soziale und politische Verhältnisse thematisieren, die tagtäglich Ungleichheit zwischen Menschen neu herstellen.
In öffentlichen Debatten werden ökonomische und gesellschaftliche Ausschlüsse mehrheitlich ignoriert bzw. rassistisch umgedeutet. Tatsache ist: Die gegenwärtigen Strukturen schaffen im Bildungsbereich, am Arbeitsmarkt, hinsichtlich politischer Mitsprache oder Selbstorganisierung eine Segregation, durch die Mehrheitsösterreicher_innen bevorzugt werden. Viele Migrant_innen sind vom Wahlrecht ausgeschlossen, es wird verschleiert, wie Migrant_innen der Zugang zu Bildung, Wohnräumen und Arbeitsplätzen, zu öffentlichen Institutionen und anderen gesellschaftlichen Räumen erschwert wird. Islamfeindlichkeit bietet einen wesentlichen Anknüpfungspunkt für mediale Auseinandersetzungen, denn Islamfeindlichkeit wird nicht als Rassismus anerkannt.
Dies geschieht im Kontext einer globalen Umstrukturierung der Wirtschaft, deren negative Effekte vor allem Arbeitnehmer_innen und Menschen mit geschwächten Rechten massiv treffen. Es wird der Versuch unternommen, über das Thema Migration soziale Positionen gegeneinander auszuspielen und Arme und Migrant_innen als unproduktiven Kostenfaktor darzustellen. Stattdessen sollte gegen Verarmung, Prekarisierung und den Verlust sozialer Rechte gekämpft werden, die immer mehr Menschen betreffen.
Migration findet statt. Sie ist eine Selbstverständlichkeit in allen Lebensbereichen. Und nicht nur das: Migrant_innen fordern ihre Rechte ein, Migration ist somit eine emanzipative Bewegung. Das Problem sind jene Politiken, die Armut und Rassismus produzieren.
Wir lehnen entschieden jede Politik ab, die gesellschaftliche Verhältnisse nach einer Kosten/Nutzen-Logik durchrechnet und Teile der Gesellschaft zur Ausschusspopulation erklärt.
Wir fordern eine Arbeitsmarktpolitik, die keine Ausschlüsse produziert, sondern Alle in der Gesellschaft mit einbezieht und fördert.
Wir fordern eine Bildungspolitik, die von der Realität der Mehrsprachigkeit und Transkulturalität in den Kindergärten und Schulen ausgeht.
Wir wenden uns entschieden gegen eine Einteilung in gute und schlechte Migrant_innen, während die Gesetze verschärft und das Recht auf Asyl de facto abgeschafft werden.
Wir fordern, dass alle Menschen, die hier leben, die gleichen Möglichkeiten haben, an der Gesellschaft sowie an politischen Entscheidungen mitzuwirken.
Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der es selbstverständlich ist, dass alle Menschen die gleichen Rechte teilen.
Hintergrund
Der Text entstand unter dem Eindruck der Ergebnisse der Wiener Gemeinderatswahl als Initiative eines Kollektivs von KünstlerInnen, WissenschafterInnen und PolitaktivistInnen - u.a. aus dem Netzwerk 'Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung' (Kritnet), die einen ähnlichen Appell bereits Anfang Oktober anlässlich der Sarrazin-Diskussion unter dem Titel "Demokratie statt Integration" ins Netz stellte.
Der deutsche Aufruf wurde bisher von über 3000 Personen unterzeichnet, der österreichische 'Ableger' konnte prominente UnterstützerInnen darunter Elfriede Jelinek, Robert Menasse, Doron Rabinovici, Dimitre Dinev, Ilja Trojanow sowie zahlreiche Uni-ProfessorInnen und VertreterInnen von Migrationsinitiativen gewinnen: die vollständige Liste der ErstunterzeichnerInnen ist unter http://ausschlussbasta.wordpress.com abrufbar.