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[ 16. Nov 2011 ]

Rechtsextreme Mordserie in Deutschland

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Die Serien- mörderInnen von Zwickau waren keine Einzeltä- terInnen. Sie hatten ein Netzwerk von HelferInnen und SympathisantInnen. Auch die Sicherheitsbehörden geraten unter Verdacht.

 

Alles scheint jetzt möglich. Erfurt schwirrt vor Gerüchten. Nach dem Selbstmord der beiden Rechtsextremisten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und der Festnahme ihrer Kumpanin Beate Z. reißen die Fragen nicht ab. Wie konnte es geschehen, dass drei Rechtsterroristen jahrelang unentdeckt kreuz und quer durch Deutschland reisten, um Bomben zu legen, Banken zu überfallen und Menschen zu töten? Was trieb diese TäterInnen? Wie viele rechtsradikale Taten gehen noch auf ihr Konto?

Nur eines scheint dieser Tage sicher. Allein haben die drei Verdächtigen nicht gehandelt. Das Bild einer vollkommen abgekapselten Killer-Sekte führt offenbar in die Irre. "Es muss eine Struktur bereitgestanden haben", sagt ein hochrangiger Ermittler, der mit dem Fall befasst ist. Nur eine solche Struktur ermögliche es TäterInnen, "über Jahre ein Leben im Untergrund" zu führen. Einen mutmaßlichen Unterstützer, den 37-jährigen Holger G., hat die Bundesanwaltschaft bereits am Sonntag in der Nähe von Hannover verhaften lassen. Mit weiteren Festnahmen, so heißt es, sei zu rechnen. "Da kann sehr schnell noch mehr Bewegung reinkommen", sagt ein Fahnder. Die entscheidende Frage lautet nun: Wie weit reichte das Netzwerk der Unterstützer? Wer half der Mörderbande? Nur rechte SympathisantInnen, mit Solidaritätsbekundungen, Bewunderung und Geld? Gab es darüber hinaus aktive UnterstützerInnen, die das Leben im Untergrund zu organisieren halfen? Oder treffen die Gerüchte zu, die hartnäckig behaupten, es hätten Verbindungen der Mörderbande zu den Sicherheitsbehörden bestanden?
Es wäre ein Skandal ohne Beispiel. Die bislang abenteuerlichste Theorie dazu steht in einem Brief eines Hauptakteurs der Geschichte an den heutigen thüringischen Innenminister Jörg Geibert. Darin wird behauptet, SympathisantInnen in den Reihen der Landespolizei hätten den drei Serienmördern im Frühjahr 1998 geholfen, in den Untergrund abzutauchen: Es habe die "sehr ernste Vermutung von illegalen Unregelmäßigkeiten bei der Polizei" bestanden, heißt es in dem Schreiben, das der ZEIT vorliegt. Der Verfassungsschutz Thüringen sei deswegen vom Erfurter Innenministerium angewiesen worden, über "bestimmte PolizeibeamtInnen" Nachforschungen anzustellen. PolizistInnen als FluchthelferInnen für potenzielle Schwerverbrecher? Ein ungeheuerlicher Verdacht.

Aber was ist im Moment schon undenkbar in Erfurt? Jörg Geibert will nach den Enthüllungen der vergangenen Tage gar nichts mehr ausschließen. "Wer ist davor gefeit?", sagt er der ZEIT auf die Frage, ob er es für möglich hält, dass einige seiner 7000 BeamtInnen braune ExtremistInnen unterstützt hätten. Am Dienstag setzte Geibert eine Kommission zur Aufklärung der Vorgänge rings um die Zelle ein. "Ohne Tabus" soll der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof Gerhard Schäfer in den kommenden Monaten ausleuchten, welche Verquickungen es zwischen Landesbehörden und den Neonazis gegeben hat.

Geschrieben hat den Anklage-Brief Helmut Roewer, von 1994 bis 2000 Präsident des Verfassungsschutzes Thüringen. Ausgerechnet Roewer. Er ist der Mann im Zentrum der Gerüchte, eine eigentümliche Gestalt. Immer wieder fällt sein Name, wenn man heute zu rekonstruieren versucht, wie die Zwickauer Neonazi-Zelle entstehen – und plötzlich aus dem Blickfeld der Sicherheitsbehörden verschwinden konnte. Will er womöglich mit dem Hinweis auf Fehler bei der Polizei von eigenen Fehlern ablenken?

Landes-Innenminister Geibert scheint der Gedanke nicht fremd. Er habe "eine Reihe von Fragen an den Geheimdienst" – und "Zweifel", ob einwandfrei gearbeitet worden sei, sagt er. Es gebe da "so viel Schillerndes über unseren ehemaligen Landesamts-Präsidenten", erklärt Geibert; beim Verfassen seines Briefes müsse nicht unbedingt das "altruistischste Motiv im Vordergrund gestanden haben". "Schillernd" ist die vielleicht noch mildeste Bezeichnung für die Amtszeit Roewers in Thüringen. Im Rückblick ist es schwer verständlich, wie dieser Mann sechs Jahre lang die Behörde leiten konnte. Beim Dienst arbeiten etwa 100 BeamtInnen, Jahresetat sechs Millionen Euro. Roewer habe den thüringischen Verfassungsschutz in seiner Amtszeit an den Rande des Zusammenbruchs geführt, erklärt Heiko Gentzel, SPD-Vize-Landtagspräsident und seit vielen Jahren Mitglied im Parlamentarischen Kontrollkomitee (PKK), dem Gremium, das die Arbeit des Geheimdienstes überwacht – oder besser: überwachen sollte.

In der Ministerialbürokratie inszenierte sich Roewer gern als Exot: Die Kleidung betont leger, die Haare etwas länger als üblich, dazu eine Vorliebe für teure Restaurants und bizarre Auftritte. Sein offizieller Lebenslauf weist ihn als Panzeroffizier aus, der hinterher Jura studierte und dann "Beamter im Sicherheitsbereich des Bundesinnenministerium in Bonn und Berlin" wurde. Heute lebt er, so seine private Homepage, als "frei-beruflicher Schriftsteller in Weimar und Italien". Für eine Stellungnahme war er bis Dienstagabend nicht zu erreichen. Per E-Mail teilte er nur mit, er beschäftige sich zurzeit "bevorzugt mit zeitgeschichtlichen Problemen", als Buchautor. Roewer, so berichten Insider heute, habe stets den Eindruck vermittelt, dass er PDS-Landtagsabgeordnete oder linke GewerkschafterInnen gefährlicher finde als Neonazi-Kameradschaften. Aufsehen erregte Roewer allerdings mit einer Äußerung auf einer öffentlichen Podiumsdiskussion im Januar 1999, als er noch Verfassungsschutz-Präsident war. Er sprach damals über das "Dritte Reich" und dass man ältere Menschen verstehen müsse, die nicht nur schlechte Seiten daran gesehen hätten.

Unter einem Decknamen gründete Roewer Ende der neunziger Jahre eine Tarnfirma namens Heron-Verlag, über die Hunderttausende von D-Mark in dubiose Projekte flossen. In die Schlagzeilen geriet der Heron-Verlag, als dort im Mai 2000 ein Film über Jugendlichen Extremismus in der Mitte Deutschlands herauskam. Roewer trat darin mit der Aussage auf, rechtsextreme Straftaten seien vor allem Propagandadelikte.

Unter Roewer heuerte das Landesamt unter anderem den NPD-Funktionär Tino B. als V-Mann an – was auch dazu führte, dass den Neonazis fortan unverhältnismäßig hohe Spitzelhonorare zugutekamen.

Wie weit die Kontakte in die Szene hineinreichten, darüber legte die Amtsspitze dem Landtag in Erfurt nie Rechenschaft ab. Der SPD-Parlamentarier Gentzel berichtet, ein Fraktionskollege und er hätten mehrfach das PKK verlassen, "weil wir einfach nicht mehr informiert wurden". Unter Roewers Ägide sei es in der Behörde "drunter und drüber gegangen" – eine Unterstützung des Mordtrios hält Gentzel deshalb durchaus für möglich.

Als Roewer 1994 aus dem Bundesinnenministerium nach Thüringen kam, brachte er, so schildert es ein damaliger hochrangiger Insider, "ganz eigene, ganz moderne Vorstellungen" mit. Er habe den Verfassungsschutz in erster Linie als wissenschaftliche und aufklärende Institution verstanden, nicht so sehr als Ausspähorganisation. Als Referatsleiter habe er junge HistorikerInnen und PolitologInnen berufen, die viel von ihren akademischen Fächern verstanden hätten, von der Geheimdienstarbeit dagegen "null". Die erfahreneren Nachrichtendienstler hätten fortan diesen Vorgesetzten zuarbeiten und das "blöde Fußvolk mimen" müssen. Es hätte ein interessantes Experiment werden können. Wäre nicht Thüringen exakt zur selben Zeit zum Testfeld einer neuen Strategie der Rechtsextremen geworden. Überall im Land gründeten sie "Freie Kameradschaften", lose Zusammenschlüsse von Neonazis, die durch das Vereinsrecht schlüpfen, sich aber wie Klubs aufführten. Unter dem Namen Thüringer Heimatschutz schlossen sich die Kameradschaften zu einem Netzwerk zusammen. Ihr Kopf wurde 1997 der V-Mann Tino B. Statt vor der zunehmenden braunen Gefahr zu warnen, so sieht es Martina Renner, Landtagsabgeordnete der Linken, habe der Verfassungsschutz seine Aufgabe eher darin gesehen, "die Dinge kontrollieren zu wollen". Sie und ihre FraktionskollegInnen sind überzeugt, dass der Verfassungsschutz die Gründung des Thüringer Heimatschutzes durch Tino B. selbst betrieben habe. Roewer bestreitet das.

Im November 1999 kommt es in Roewers Behörde zum Eklat. Das Landesamt hat es versäumt, die Polizei über ein Skinhead-Konzert in Schorba, einem Dorf bei Jena, zu informieren. Völlig überfordert müssen die anrückenden Beamten mitansehen, wie tausend Neonazis die Kneipe, in der das Treffen stattfindet, zu Kleinholz verarbeiten.
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Im Erfurter Dienstsitz des Verfassungsschutzes schreibt daraufhin der Leiter des Referats Rechtsextremismus, Karl Friedrich Schrader, dem damaligen Innenminister einen Brief. Er bittet ihn, "die unerträglichen Zustände im Verhältnis von Präsident und Belegschaft" zu beenden. Der Minister, damals Christian Köckert von der CDU, schickt einen seiner Abteilungsleiter in die Behörde, um den Konflikt beizulegen. Doch der nächste große Knall lässt sich dadurch nicht verhindern: Im Juni 2000 outet sich der Neonazi Tino B. als V-Mann. Innenminister Köckert versetzt Roewer daraufhin in den einstweiligen Ruhestand.

Ein Verfassungsschutzchef, der das Unkonventionelle kultiviert, der keine Skrupel hat, aus dem Ruder laufende ExtremistenführerInnen als ZuarbeiterInnen zu beschäftigen, der eine Behörde innerhalb der Behörde aufbaut – hat der sich womöglich auch zugetraut, ein Trio wie Mundlos, Böhnhardt und Beate Z. nachrichtendienstlich zu steuern? Es wäre nicht die einzige fatale Fehleinschätzung des Präsidenten.

Nachdem die Polizei 1998 eine Bombenwerkstatt des Trios in einer Garage in Jena ausgehoben hatte, den dreien aber die Flucht gelungen war, verkündete Roewer gegenüber einem Reporter: "Ich denke, sie befinden sich am Ende ihrer Karriere, noch bevor sie richtig begonnen hat." Ein furchtbarer Irrtum. Da hatten die drei gerade erst angefangen zu morden.

Es war nicht das letzte Versagen. Im Landesverfassungsschutzbericht von 1998 werden Mundlos, Böhnhardt und Beate Z. namentlich genannt. In den Jahren 1996 und 1997 sollen sie mindestens vier funktionsfähige Bomben besessen haben, die Polizei findet später in einer Garage 1,4 Kilo des Sprengstoffs TNT. Dann verschwinden sie im Untergrund. Die ThüringerInnen bekommen sie nicht mehr zu fassen. Und sie versäumen auch, ihre Informationen an andere FahnderInnen weiterzugeben.

Auf zwei Männer und einer Frau, die Bomben basteln, Sprengstoff in einer Garage horten und plötzlich abtauchten, hätten die Ermittler der Sonderkommissionen in Köln und Nürnberg, die verzweifelt nach den Serienmördern suchten, nur zu gern einen Hinweis bekommen. "Warum haben wir nie aus Thüringen erfahren, dass da drei Verdächtige fehlen, die möglicherweise zu unserer Serie passen?", wundert sich heute Wolfgang Geier, ehemaliger Leiter der Soko Bosporus. Wer heute das Phantombild der Soko mit den Fahndungsfotos der Thüringer Polizei von 1998 vergleicht, wird eine frappierende Ähnlichkeit feststellen. Versagen? Schlamperei? Oder doch Kumpanei?

Und beschränkte sich die Pannenserie, wenn es denn eine Pannenserie war, auf Thüringen? Längst gibt es Hinweise, die über das Bundesland hinausweisen. Im April 2006, beim letzten Mord des Zwickauer Trios, saß zumindest bis kurz vor den tödlichen Schüssen auf den Betreiber eines Internetcafés ein Beamter des hessischen Verfassungsschutzes im Nebenraum vor einem der Computer.

Vier der fünf Gäste des Cafés zur Mordzeit meldeten sich auf einen Zeugenaufruf der Polizei hin, nur der Beamte aus dem Sachgebiet Ausländerextremismus nicht. Nach 15 Tagen hatten die Ermittler ihn aufgespürt. Und bis in diese Tage gaben sie sich mit der Erklärung zufrieden, der Nordhesse sei nur zufällig dort gewesen. Er habe sich nicht offenbaren wollen, weil es ihm peinlich gewesen sei, dass er auf Sexseiten surfte, während seine Frau hochschwanger zu Haus saß, so die Erklärung. Versetzt wurde der Beamte dennoch, in das Kasseler Regierungspräsidium.

Doch heute lassen neue Erkenntnisse diese Spur in anderem Licht erscheinen. Neben einer Reihe von (angemeldeten) Waffen, die bei dem Sportschützen in der Wohnung gefunden wurden, entdeckten ErmittlerInnen dort auch brisantes Material: Pamphlete aus der rechten Szene, Papiere aus dem "Dritten Reich", Auszüge aus Mein Kampf. Nicht haufenweise, aber doch auffällig viele. Zudem soll der Verdächtige wegen rechtsradikaler Ansichten in der Nachbarschaft bekannt gewesen sein: In seinem Heimatdorf werde der Mann deshalb "der kleine Adolf" genannt. Und plötzlich kocht auch der ungeheuerliche Verdacht wieder hoch, der Beamte sei an mehr als einem der Tatorte zur Tatzeit gewesen.

Noch ist keine Verbindung zu der Zwickauer Zelle ersichtlich. Aus der damals ermittelnden Kasseler Staatsanwaltschaft heißt es, der Verdächtige, gegen den das Verfahren eingestellt worden sei, habe keine Kontakte zu neonazistischen Organisationen oder Personen gehabt. All das wird die Bundesanwaltschaft jetzt noch einmal genau überprüfen.

Von den Ergebnissen der Ermittlungen hängt viel ab. Sollte sich aus den Puzzleteilen, aus den Bruchstücken und Informationsfetzen das Bild eines Geheimdienstes ergeben, der rechten Terror unterstützt – die Republik wäre eine andere.