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[ 21. Dec 2012 ]

Kämpfen, bis wir frei sind von Essenspaketen und Taschengeld

Das Protestcamp der Flüchtlinge in Wien, hier am 8. Dezember 2012.

In Österreich finden die größten selbst organisierten Proteste von Flüchtlingen in der jüngeren Geschichte statt.

 

Seit ich vor fast neun Jahren in dieses Land gekommen bin, lebe ich in Wien. Ich bin 32 Jahre alt, Mann, Vater, Nigerianer. Ich kann mir nicht vorstellen, wieso Leute denken, dass ich nicht hierher hätte kommen sollen. »Wann bist Du nach Österreich gekommen?« oder »Warum bist Du hierher gekommen, und nicht nach England oder in die Vereinigten Staaten?« Fragen dieser Art werden mir immer wieder gestellt, viel häufiger als die Frage »Wie geht es Dir?« Diese Fragen zeigen deutlich, wie unwirtlich manche Leute sein können. Ich gebe oft keine Antwort; und manchmal antworte ich mit einer einfachen Gegenfrage, nämlich »Warum nicht hierher?«

Ich habe mich schon oft gefragt, wer die Last am meisten zu spüren bekommt: AsylwerberInnen, Flüchtlinge oder andere MigrantInnen mit unterschiedlichem rechtlichen Status? Wir alle haben eine Reihe von Problemen, angefangen mit unseren Herkunftsländern über die diversen Wege, die wir beschritten haben, um hierher zu kommen. Und jetzt sind wir endlich hier, in einer vollständig zivilisierten Gesellschaft, in der Menschenrechte angeblich respektiert und geschützt werden. Wir sind unter Menschen, die auch erlebt haben, was Leiden bedeutet und deren Freiheit die Freiheit im eigentlichen Sinn des Wortes ist. Was würde es bedeuten, in dieser Welt geboren zu werden, wenn wir hier nicht die Möglichkeit zu einem besseren Leben sowie dafür bekommen, etwas zurückzugeben?

Zu teilen bedeutet zu lieben, so sagt man. Nach 3.172 Tagen harten Lebens in Österreich hatte ich das Gefühl, es sei an der Zeit, darüber zu sprechen, was bisher noch nicht geteilt wurde. Ich weiß nicht, warum die Vereinten Nationen angesichts der vielen Probleme schweigen, mit denen Menschen kämpfen, die sich entschieden haben, Zuflucht in anderen Ländern zu suchen. Die Vereinten Nationen bekommt man nur in vom Krieg verwüsteten Ländern und in Gebieten zu Gesicht, die von Naturkatastrophen getroffen werden. Es mag sein, dass ich acht Jahre, acht Monate und vier Tage geschwiegen habe, weil ich dachte, dass Hilfe kommen wird. Denke ich darüber nach, so fällt mir ein, dass ich im Moment des Ankommens in diesem Land dachte, die Dinge wären am nächsten Morgen besser. Allein, was am nächsten Morgen geschah, war ein Realitätsschlag. Seit diesem Moment scheint der Kampf kein Ende mehr zu nehmen. Nur bin ich heute wach, aufgewacht aus einem fast neun Jahre währenden Schlummer. Ich sehe nunmehr, wie sehr einem diese Festung Europa den Atem nehmen kann. Es kann sein, dass ich zu faul, zu unentschlossen oder vielleicht nicht stark genug war, mich meinen Ängsten zu stellen. Aber warum werden uns im Hinblick auf das, was wir erreichen können, Schranken gesetzt? Warum sind wir hauptsächlich die Objekte von Hohn? Und warum werden wir prekären Lebensbedingungen unterworfen, den BürgerInnen gegenüber mit allen Mitteln diskriminiert und von ihnen isoliert? Ich weiß es nicht!

Das Leben ist hart, aber das Leben als Flüchtling in einem System mit hoch technologischen Mechanismen, die zu hochgradiger Diskriminierung und Ungleichheit unter den Menschen führen, ist noch viel härter. Das System brandmarkt uns als Illegale. In den Flüchtlingslagern behandelt man uns als Kriminelle. Sie nehmen uns unsere Fingerabdrücke und behalten diese für immer. Sie verbieten uns, das Land zu verlassen. Sie schränken uns auf einen Radius von fünf Kilometern ein, geben uns ein Essenpaket und sperren uns mit vier bis fünf anderen Menschen in einem zehn Quadratmeter kleinen Raum ein. In Wien erhält man fünf Euro pro Tag für Nahrung und 40 Euro Taschengeld pro Monat. Man hat ein Dach über dem Kopf und ist krankenversichert. Engstirnige halten all das für Luxus. Aufgeschlossene jedoch wissen, dass es mit 40 Euro monatlich unmöglich ist, in einer monolingualen Gesellschaft wie dieser die Sprache zu lernen und Deutschkurse zu besuchen. Deutschkurse sind eine gute Sache. Aber mit 40 Euro kann man sich nicht einmal das Wiener-Linien-Ticket leisten. Und ohne Ticket läuft man Gefahr, entweder eine hohe Strafe zu bezahlen oder schlimmstenfalls wegen einer Verwaltungsübertretung inhaftiert zu werden.

Freiheit, Unabhängigkeit, Recht auf Bildung, Recht auf Meinungsäußerung, Recht auf Leben - wissen wir überhaupt noch, was das ist? Warum werden Menschen nach Mali abgeschoben, wenn dort Bürgerkrieg herrscht? Warum werden alle Nigerianer als Drogendealer bezeichnet? Warum verkündet ein Bürgermeister aus Kärnten, dass TschetschenInnen und Schwarze in seiner Stadt nicht erwünscht sind, und warum fragt niemand warum?

Die Zeit ist gekommen, mit Nachdruck unsere Rechte in Österreich und in Europa einzufordern. Mehr als hundert somalische Männer, Frauen und Kinder haben sich zwischen dem 10. und dem 13. Oktober 2012 auf die Straße begeben, um zu demonstrieren und während drei Tagen und Nächten in der Kälte vor dem Parlament auszuharren, um ihr Recht auf Asyl zu verlangen. Viele ÖsterreicherInnen kampierten mit ihnen, um ihre Solidarität zu zeigen und die Somalis dabei zu unterstützen, für die Rechte aller Flüchtlinge in diesem Land einzutreten. Von der Regierung gab es bis heute keine Antwort. Zeigt das nicht sehr deutlich die Geringschätzung der PolitikerInnen und politischen Autoritäten gegenüber den Forderungen von Fremden und BürgerInnen? Wenn eine Politikerin der gesamten Nation im nationalen Fernsehen erzählt, dass ein Asylansuchen ein Ansuchen um Schutz ist, dann sollte sie auch erwähnen, dass Flüchtlinge als Flüchtlinge im guten alten Österreich mit Wärme empfangen werden sollten, anstatt fortwährend Rassismus, Repression, Ungleichheit und Menschenrechtsverletzungen zu propagieren.

Schauen wir uns den Fall eines Mannes aus Sri Lanka an, der sich zu dem seit dem 24. November bestehenden Flüchtlingscamp in Wien gesellte: Er lebt seit 15 Jahren in diesem Land und hat hinsichtlich seines Asylverfahrens noch immer keine Entscheidung. Und niemand weiß, wie lange er noch warten muss! Was können wir über den Sudanesen sagen, der vor mehr als zehn Jahren mit seinem leiblichen Bruder nach Österreich gekommen ist und bis heute keine positive Entscheidung von Seiten des Bundesasylamtes erhalten hat? Merkwürdigerweise wurde sein Bruder schon vor so langer Zeit legalisiert, dass er mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten hat. Ich habe im Protestcamp der Flüchtlinge viele Menschen getroffen, die schon seit Jahren in Österreich leben, sehr gut Deutsch sprechen und niemals Probleme mit der Polizei hatten. Dublin II wird in diesem Land sehr effektiv umgesetzt. Undokumentiertes Arbeiten erreicht in Österreich ein außerordentliches Ausmaß. AsylwerberInnen dienen in Traiskirchen als ÜbersetzerInnen für andere Flüchtlinge, ohne für diese Leistung bezahlt zu werden. Ist das nicht seltsam? Wenn EuropäerInnen übersetzen, werden sie bezahlt. Sind es AsylwerberInnen, so kostet das nichts.

Das Flüchtlingscamp im Sigmund-Freud-Park im 9. Wiener Gemeindebezirk ist ein Zeichen dafür, dass man immer, wenn man eine Faust ballt, jemanden oder etwas treffen möchte. Es ist kein Zufall, dass die Flüchtlinge einen neunstündigen Fußmarsch von Traiskirchen nach Wien auf sich nahmen und seit mehr als zehn Tagen in diesem Park campieren. Ich bin Teil dieser Flüchtlingsbewegung und habe eine Menge Energie anzubieten. Wir werden so lange kämpfen, bis wir frei sind von Essenspaketen und Taschengeld, weil 40 Euro Taschengeld meinen kleinen Kindern keine sichere Zukunft gewährleisten. Mit diesen Worten bürde ich euch die Last auf, das zu tun, was richtig ist! Jetzt oder nie!

Artikel von Clifford Agathor, zuerst erschienen in AK - Analyse und Kritik, Nr. 578 / 21. Dez 2012 und auf :: akweb.de (Übersetzung: Birgit Mennel).

Clifford Agathor ist politischer Aktivist, wurde in Nigeria geboren und lebt seit neun Jahren in Wien.