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[ 13. May 2003 // letzte änderung: 13. May 2003 ]

Menschenrechte als Dekorationsmaterial

Eine Polemik zur schulischen Menschenrechtsbildung in Österreich

 

Eben erst wurde ein Türkischstämmiger Schüler auf dem Weg zur Schule ohne ersichtlichen Grund von Polizisten angehalten und perlustriert, fotogerecht mitten im Stadtzentrum. Wenige Wochen zuvor: Der Schulwart findet im MÃŒleimer des Damen-WCs Spritzen mit aufgesteckten Injektionsnadeln. Er schließt daraus, daß Schülerinnen im SchulGebäude "harte" Drogen konsumieren und teilt dem Direktor auch gleich mit, wer die Konsumierenden sind: vier kurdische Schülerinnen. NaTürlich fehlt ihm für seine Beschuldigung jeglicher Hinweis, aber was macht das schon.

In der Klasse besinnt sich eine Englischlehrerin ihrer Fortschrittlichkeit und setzt es mit ernster Miene auf die Tagesordnung, das Thema: Rassismus. Praktischerweise hat sie gleich schülerInnengerechte Unterlagen zu zwei besonders offensichtlichen Beispielen parat, die sich in idealer Weise mit dem Englischunterricht ergÀnzen: Apartheid in südafrika! Rassentrennung in den USA! Das dem Thema gemäße zutiefst betroffene Stirnrunzeln über der randlosen Lehrerinnenbrille, ergÀnzt durch den warnend erhobenen Zeigefinger, verleiht der fortschrittlichen Lehrerin den Flair einer großen Aufklärerin im Dienste der Menschheit: Schluß mit alten Vorurteilen! Nieder mit unzulässigen Verallgemeinerungen! Weg mit hetzenden Populisten! Die verklemmten Rassentheoretiker auf den MÃŒllhaufen der Wissenschaftsgeschichte! Und überhaupt: Free Nelson Mandela! Und keine Rassentrennung in US-Amerikanischen Linienbussen mehr!

Wir befinden uns in einem Gymnasium für Berufstätige und schreiben das Jahr 1997. Nelson Mandela ist seit drei Jahren südafrikanischer Staatspräsident und auch die Rassentrennung in US-amerikanischen Linienbussen ist glÃŒcklicherweise Vergangenheit. Die fortschrittliche Lehrerin indessen verurteilt in wohlgesetzten Worten das Unrecht der Welt im allgemeinen und das Leid Mandelas im besonderen. Sie ist ganz bei der Sache - die freilich nur bedingt jene ihrer SchülerInnen ist. Deren Sache ist vielmehr das Hier und Jetzt. Österreich. Die eigene Stadt und was in ihr vorgeht. Eine kurze Unaufmerksamkeit - und schon steckt die Klasse mitten in einer Diskussion, die sich nicht im geringsten um die schülerInnengerechten Unterlagen der irritierten Lehrerin schert. Sie könne schon verstehen, schaltet sie sich schließlich in die Diskussion ein, daß "die Leute" Angst hätten, wenn sie im Dunkeln einem Afrikaner begegneten: "Stellen Sie sich vor, Sie gehen in der Nacht durch eine UnterFührung - Sie sehen den ja kaum!"

Ein paar SchülerInnen stehen auf und verlassen den Raum, der Rest verharrt in Schweigen. Die fortschrittliche Lehrerin ist schließlich Klassenvorstand, man steht kurz vor der Matura - und jeder weiss, daß Unbotmäßigkeit flugs zu einer jener beliebten EinzelPrüfungen vor versammelter Klasse ("Nur zu Ihrem Besten!") führen kann, mit denen die Hierarchie im Klassenraum wiederhergestellt wird.

Menschenrechtsbildung an Österreichs Schulen: Sie findet statt. Aber wie. Einzelne kompetente und engagierte LehrerInnen können nicht über die strukturellen Defizite hinwegtÀuschen, die in der Praxis in Form von Vorfällen wie dem oben skizzierten (und vom Verfasser selbst erlebten) in Erscheinung treten. Worin liegen diese Defizite begründet?

Menschenrechte werden in Österreich im schulischen Kontext noch immer nicht als von den übrigen SchulfÀchern unabhängiges und eigenständiges Thema, geschweige denn als Fach wahrgenommen. Sie werden in der Praxis noch nicht einmal - wie etwa Politische Bildung - als Unterrichtsprinzip angesehen, das im Rahmen sogenannter trägerfÀcher seinen mehr oder weniger festen Platz zugewiesen bekommt.

Menschenrechte sind damit letztlich wenig mehr als hin und wieder geeignetes Illustrations- und Dekorationsmaterial für das jeweilige Fach. Im Unterricht sind sie nur von nachrangiger Bedeutung - vorrangig geht es um die Vermittlung von Kenntnissen bezüglich der im Lehrplan festgelegten Inhalte des eigentlichen Schulfaches. Das heißt: Werden die Menschenrechte etwa im Englischunterricht thematisiert, so geht es zuallererst um die korrekte Aussprache eines Textes oder das Verfassen orthographisch und grammatikalisch korrekter Inhaltsangaben und kurzer Essays. Sind Menschenrechte im Geschichtsunterricht ein Thema, so steht das Wissen um ihre historischen Entstehungsbedingungen und die damit verbundenen Ereignisse im Vordergrund. Nicht anders ist es den anderen FÀchern.

Im Rahmen all dieser FÀcher können zwar jeweils sehr spezifische Aspekte der Menschenrechte angesprochen werden, die BeschÃŒftigung erfolgt jedoch aus dem Blickwinkel des jeweiligen Faches, der - da er andere Perspektiven zwangsläufig mehr oder weniger deutlich ausklammern muß - letztlich reduktionistisch ist. Auf der Strecke bleibt damit vor allem jene Grundlage der Menschenrechtsbildung, die in der Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen dem Eigenen und dem Anderen und Fremden, den eigenen Rechten und jenen der anderen Menschen gesehen werden kann. Die Verbundenheit von Ich und Du als Grundstruktur der Menschenrechte läßt sich jedoch kaum als lediglich ein Thema unter vielen - zumal eines mit "Illustrationscharakter" - im Rahmen eines Unterrichtsfaches erfahr- und erlebbar machen, das letztlich auf ein völlig anderes Lern- bzw. Lehrziel hinarbeitet.

Diese "Dekorationsfunktion" der Menschenrechte im Unterricht führt zu einer entsprechenden Herangehensweise der LehrerInnen an die Thematik: Das im Unterricht verwendete Material ist nur allzu oft mehr oder wenig beliebig - gewählt wird, was gerade verfügbar ist, auch wenn jegliche Aktualität fehlt. Eine vorbereitende intensive Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Menschenrechtsthematik erfolgt eher selten - sie wird auch gar nicht als nötig erachtet, geht es doch primär um das jeweilige Schulfach und nicht um die Menschenrechte. Folgerichtig verfügen LehrerInnen auch nur in wenigen fälle über ein pÀdagogisches Konzept für die Thematisierung der Menschenrechte - auch hier gilt: Im Vordergrund stehen ja das jeweilige Fach und dessen pÀdagogische Konzepte. Was bleibt, ist, daß das Ansprechen von Menschenrechtsthemen im Unterricht "gut gemeint" ist - aber "gut gemeint" ist bekanntlich häufig "schlecht getroffen".

Was also auf LehrerInnenseite oft genug völlig fehlt, ist zum einen eine solide inhaltliche Basis im Menschenrechtsbereich - die Einsicht in die Grundstruktur der Menschenrechte, die Kenntnis aktueller Themen, das Verf?gen über didaktische Mittel, um sie sinnvoll aufzugreifen, das Wissen um praktische HandlungsMöglichkeiten etc. -, zum anderen ein reflektierter und damit kritisch erprobter eigener Zugang zur Thematik. Die Folge: Die LehrerInnen können in Situationen, in denen sie von ihren Sch?lerInnen gezwungen werden, den engen Rahmen des (oft ohnehin nur spärlich vorhandenen) vorbereiteten Unterrichtsmaterials zu verlassen, auf nichts zurückgreifen - außer auf ihre persönlichen (und unreflektierten) Ansichten und Einstellungen. Das plötzliche und eigentlich nicht vorgesehene zurückgreifen auf eben diese endet jedoch Öfter als man gerne glauben m?chte genau dort, wo die oben zitierte Englischlehrerin landete.

Was folgt daraus? Solange die Menschenrechte im Schulbereich weniger als ein Unterrichtsprinzip sind, bleibt ihre Thematisierung - so sie erfolgt - im Unterricht im allgemeinen auf dem beschriebenen Niveau. Die manchmal erhobene Forderung einer stärkeren und kompetenteren Thematisierung der Menschenrechte im Rahmen von Politischer Bildung ist jedoch nicht der geeignete Hebel, diesen Mißstand abzustellen - abgesehen von den sich unterscheidenden Lernzielen ist es offenkundig kaum sinnvoll, ein "Fach" zum trägerfach der Menschenrechte machen zu wollen, das für seine Existenz selbst auf trägerfÀcher angewiesen ist. Das Ziel sollte daher sein, die Menschenrechte in Form eines eigenständigen Unterrichtsfaches an den Schulen zu etablieren. Die Etablierung als Unterrichtsfach signalisiert dabei LehrerInnen wie SchülerInnen, daß den Menschenrechten zentraler Stellenwert zukommt - und ist ein Statement, das weit über den Schulbereich hinaus von Bedeutung ist. Eine Institutionalisierung der Menschenrechte als Unterrichtsfach sichert überdies personelle und finanzielle Ressourcen, die insbesondere für Materialien und Weiterbildung unerläßlich sind.

Erstmals als Pflichtfach eingerichtet wurden die Menschenrechte im laufenden Schuljahr 2002/03 an der Oberstufe einer privaten Gesamtschule in Innsbruck. Auf Initiative des Tiroler Instituts für Menschenrechte und Entwicklungspolitik (time) setzen sich nun die Sch?lerInnen der 11. Schulstufe der Freien Waldorfschule Innsbruck im Rahmen eines vierwÃŒchigen Blockunterrichts - zur Verf?gung stehen wöchentlich an vier Tagen je zwei Schulstunden - intensiv mit der Menschenrechtsthematik auseinander. Da es mit einem "Pflichtfach" Menschenrechte bislang noch keine Erfahrungswerte gibt, wird der Unterricht unter dem Projekttitel "Meine Rechte - Deine Rechte: Menschenrechte als Unterrichtsfach" drei Schuljahre lang wissenschaftlich begleitet und dokumentiert.


Informationen zum Projekt "Meine Rechte - Deine Rechte: Menschenrechte als Unterrichtsfach":
Tiroler Institut für Menschenrechte und Entwicklungspolitik (time), A-6020 Innsbruck, Angerzellgasse 4, Tel. +43/512/582232, Fax DW 9, e-mail presse (at) human-rights.at

von Raimund Pehm, Mai 2003