...oder warum es nicht genügt, von den Nazis abgelöst worden zu sein.
von Dominik Bernhofer und Wolfgang Pichler
Jahrestage jedweder Art sind stets gut für offizielle Gedenkveranstaltungen und Reden, die meist wenig zu einem kritischen Diskurs beitragen. Sie können aber auch zu fruchtbaren Diskussionen führen. Vor allem dann nämlich, wenn es sich um "Jubiläen" handelt, die im öffentlichen Bewusstsein noch als umstritten wahrgenommen werden. Der Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland, der sich im März 2008 zum 70igsten mal jährte, ist ein Anlass, die Diskussion um die offizielle Beurteilung, nicht nur des Anschlusses selbst, sondern auch seiner Vorgeschichte, fortzusetzen. Nach wie vor werden teilweise absurde Theorien über die Rolle, die das austrofaschistische Regime (1933–1938) dabei einnahm, auch von offiziellen VertreterInnen der Republik, vor allem aber von der Regierungspartei ÖVP, verbreitet.
Habsburg im Reichstag
Es war Otto Habsburg, Sohn des letzten österreichischen Kaisers, der die These von Österreich als erstem Opfer der Expansionspolitik des deutschen Naziregimes in einer Rede im Parlament wiederbelebte. Bis dahin schien diese zumindest im offiziellen Diskurs überwunden. Bedeutsam ist an diesem Ereignis nicht nur, dass es die Veranstalterin ÖVP dem Habsburger ermöglichte im ehemaligen Reichstag aufzutreten, sondern auch seine Formulierung: "es gäbe keinen Staat in Europa, der mehr Recht habe, sich als Opfer zu bezeichnen". Wenn ein 95jähriger, ehemaliger Thronfolger und Ehrenbürger des so genannten "Ständestaates" solche abstrusen Mythen verbreitet, könnte darüber ja großzügig hinweggesehen werden. Wäre da nicht der Applaus der zahlreichen FunktionärInnen und SpitzenpolitikerInnen der ÖVP gewesen. Und eben diese fragwürdige Haltung, von führenden RepräsentantInnen des Staates an den Tag gelegt, ist, was Besorgnis erregt.
Und das, nachdem Österreich gut 50 Jahre gebraucht hatte, um sich seiner Schuld bewusst zu werden. Erst die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten, eines ÖVP-Politikers mit SA-Vergangenheit löste 1986 eine breitere Diskussion über die Beteiligung von ÖsterreicherInnen am Nazi-Terror aus. Der Sozialdemokrat Franz Vranitzky war 1991 (!) der erste Regierungschef, der klare Worte zur Mitverantwortung Österreichs am Holocaust fand und endgültig mit der Opferthese aufräumte. Weite Teile der ÖVP hatten und haben Schwierigkeiten mit dieser Position. Nicht nur, weil Waldheim aus ihren Reihen stammte, sondern vor allem auch, weil die "Gründungsväter" der Partei, wie etwa Julius Raab, selbst Teil des diktatorischen Systems des Austrofaschismus waren und ihre Partei aus dessen christlich-sozialer Einheitspartei hervorgegangen war.
Fünf Jahre lang nichts passiert?
Es macht oft den Anschein, als würde niemand in Österreich wissen, was bis zur Machtübernahme Hitlers in Österreich geschehen war. Niemand spricht darüber und es scheint fast so, als sei vom Februar 1933 bis zum März 1938 die Zeit stillgestanden. Dabei hat diese "Vorgeschichte" zum Anschluss bereits viele Weichen in eine Richtung gestellt, die dann ungleich extremer von den Nazis weiterverfolgt wurde. Der Wahnsinn des Nazi-Terrors hat, in seinem ganzen politischen Gewicht, das selbsverständlicherweise mit ihm verbunden ist, das verdrängt, was fünf Jahre vor dem Anschluss passiert war. Im Februar 1933 wurde von den Christlich-Sozialen das Parlament der I. Republik Österreichs ausgeschaltet und eine faschistische Diktatur errichtet. Bis heute wird die These bemüht, dass dies eine Großtat der "österreichischen PatriotInnen" war, ein notwendiger Akt, um den österreichischen Staat zu bewahren. Die Demokratie der I. Republik hätte sich als ohnmächtig erwiesen und auf die "vaterlandslosen Sozialisten" und die linke Opposition im Allgemeinen sei ohnehin kein Verlass gewesen. Wer tatsächlich glaubt, 1933 seien die "österreichischen PatriotInnen" an die Macht gekommen, irrt nicht nur, sondern verleugnet Tatsachen – sei es, um die eigene bedenkliche Vergangenheit zu schönen, oder nicht. Parteienverbote, Anhaltelager für politisch Andersdenkende, der Korneuburger Eid oder fehlende Versammlungs- und Meinungsfreiheit sprechen ebenso wie die bereits begonnene Vertreibung von Menschen jüdischer Abstammung, etwa aus dem öffentlichen Dienst, eine deutliche Sprache.
Es war Dollfuß Nachfolger, Schuschnigg, der in einer Radio-Rede vom 11. März 1938 skandiert hatte: "Rot-weiß-rot bis in den Tod!" Und es war derselbe Schuschnigg, der 14 Tage später dem österreichischen Bundesheer jeden Widerstand gegen die deutsche Invasion untersagte. Natürlich wäre das österreichische Bundesheer auch unter demokratischer Führung ein "Jausengegner" der Nazis gewesen. Wahrscheinlich wären die "Alliierten" auch im Falle einer militärischen Auseinandersetzung nicht aus ihrer Passivität erwacht. Doch darum geht es auch überhaupt nicht. Es geht darum, was der Austrofaschismus der österreichischen Zivilgesellschaft angetan hat; was er mit den Organisationen und "Stützpunkten" eines möglichen Widerstandes gegen die Nazis, was er mit dem Vertrauen in die noch junge Demokratie gemacht hat. Und es geht darum, wie mit dieser Geschichte heute umgegangen wird.
Es ist dieses geschichtsverleugnende Denken, das dem Opfermythos zugrunde liegt. Nur so ist es noch immer großen Teilen der österreichischen Bevölkerung möglich, das Bild aufrecht zu erhalten, demzufolge 1938 die bösen Nazis aus dem Ausland kamen und das arme, kleine, patriotische und unschuldige Österreich überrannten, um dann auch an "uns" ihre schrecklichen Verbrechen zu begehen. Dieses Selbstverständnis liefert noch immer die Basis dafür, dass sich Österreich nicht in vollem Umfang seiner Verantwortung für dieses größte Verbrechen an der Menschheit stellt.
Dieser Artikel erschien in "Unique - Magazin der ÖH Uni Wien" im Rahmen eines Schwerpunkts zu Kontinuitäten vor und nach 1938 und wurde von uns mit freunlicher Genehmigung der Autoren übernommen.