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[ 11. Dec 2009 ]

Völlig enthemmt

stop deportation

Am 10. Dezember 2009, "Tag der Menschen- rechte", beschließt die EU mit dem "Stockholmer Programm" einen neuen Fünfjahresplan zur Flüchtlingsabwehr. Das Programm steckt den Rahmen für die künftige EU-Innenpolitik ab.

 

Die darin festgelegten Pläne zur Hochrüstung der EU-Außengrenzen sind auf Druck der BRD Regierung verschärft worden und führen die brutale Abschottungspolitik fort, die unter Menschenrechtsorganisationen auf scharfe Kritik stößt. Die EU nehme die Rechte von Flüchtlingen "nicht ernst" und setze nur auf die Abweisung nicht erwünschter Migranten, beklagt Amnesty International. Das Massensterben im Mittelmeer sei "Ausdruck einer völlig enthemmten Abwehrpolitik Europas", erklärt Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL. Auch im Inland verstießen die deutschen Behörden systematisch gegen die Menschenwürde und damit auch gegen die Menschenrechte von Flüchtlingen, urteilt Volker Maria Hügel, Bundesvorstandsmitglied von PRO ASYL, gegenüber dieser Redaktion. Die Flüchtlingsabwehr Berlins und der EU hat inzwischen Todesopfer in fünfstelliger Größenordnung gefordert - im Mittelmeer, im Atlantik und in Osteuropa. Das Massensterben an den EU-Außengrenzen gehört damit zu den großen Weltkatastrophen der letzten 20 Jahre.


Willkür und Tod


Das "Stockholmer Programm", das der Europäische Rat auf seinem heute beginnenden Treffen verabschieden wird, stößt unter Menschenrechtsorganisationen auf scharfe Kritik. Das Programm steckt den Rahmen für die EU-Innenpolitik der kommenden fünf Jahre ab und umfasst die gesamte Bandbreite des Themenbereichs von Strafrecht und innerer Repression bis zur innenpolitischen Zusammenarbeit mit Drittstaaten. Einen erheblichen Stellenwert nimmt die Flüchtlingsabwehr ein. Über die diesbezüglichen Passagen des Papiers urteilt Amnesty International: "Eine Migrationspolitik, die sich nur damit beschäftigt, Menschen zurückzuweisen, und die die Rechte von Migranten nicht ernst nimmt, kann nicht funktionieren". Mit der Abschottung der Außengrenzen seien in der Praxis immer wieder "willkürliche Inhaftierungen, erzwungene Rückkehr und sogar der Tod von Menschen" verbunden, "die laut Berichten dem Sterben auf See überlassen werden".[1] Auch die Flüchtlingsorganisation PRO ASYL protestiert gegen das neue Stockholmer Programm. "Völkerrechtswidrige Zurückweisungen, willkürliche Inhaftierung, der Tod von Flüchtlingen sind traurige Realität und Ausdruck einer völlig enthemmten Abwehrpolitik Europas", urteilt Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL.[2]


Deutscher Druck


Tatsächlich gehen gerade die Passagen des Stockholmer Programms, die eine Verschärfung der Abschottung gegen Flüchtlinge vorsehen, auf deutschen Druck zurück. Das Bundesinnenministerium hat am 2. Oktober eine Stellungnahme zum damals vorliegenden Entwurf für den Fünfjahresplan abgegeben, die eine Vielzahl vermeintlicher Mängel konstatiert. Es gebe "einige Bereiche, in denen wir unsere Ziele konkreter und ambitionierter fassen sollten", heißt es in dem Dokument, das anschließend "deutsche Hauptanliegen für das künftige Stockholmer Programm" auflistet.[3] Den größten Raum nehmen dabei Forderungen ein, welche die Flüchtlingsabwehr betreffen.


Deutsche Hauptanliegen


Das Bundesinnenministerium hebt in seiner Stellungnahme ausdrücklich hervor, der "Migrationsdruck an den Außengrenzen" der Europäischen Union schiebe "aus unserer Sicht die Thematik der illegalen Migration auf europäischer Ebene in den Vordergrund".[4] Zu den deutschen Forderungen gehören koordinierte europäische Abschiebungen ("wirksame Rückführungspolitik auf Gemeinschaftsebene"), die Anwerbung hochqualifizierten Fachpersonals aus aller Welt ("effizientere Steuerung legaler Migration") und die Einbindung der Staaten Afrikas in die Flüchtlingsabwehr ("Euro-Afrikanischer Migrationspakt"). Berlin verlangt die Stärkung der umstrittenen EU-Grenzschutzagentur Frontex, finanzielle und technische Hilfen für Abschottungsmaßnahmen entlang der EU-Außengrenzen sowie die Stationierung von Repressionspersonal ("Verbindungsbeamte") in den Herkunfts- und Transitländern; Vorbild sind offenbar die "Verbindungsbeamten" des Bundeskriminalamts.[5] Schließlich sollen schon in den Herkunftsländern auch operative Unternehmungen gestartet werden; in der Stellungnahme des Innenministeriums ist vom "Einsatz von Dokumenten- und Visaberatern" die Rede - unter dem Stichwort "EU-Vorverlagerungsstrategie". Die Vorschläge zielen sämtlich darauf ab, die Abwehr nicht erwünschter Migranten zu perfektionieren und die Herkunfts- und Transitländer für die Abwehrprojekte zu nutzen.


Abschreckungsmaßnahmen


Den Forderungen, die ohnehin schon brutale Flüchtlingsabwehr an den EU-Außengrenzen zu verschärfen, entspricht die Fortführung der Abschreckungspolitik gegen Flüchtlinge innerhalb Deutschlands. Letzte Woche verhandelten die Innenminister des Bundes und der Bundesländer über eine "Altfallregelung" für zehntausende Flüchtlinge, die seit langer Zeit mit dem prekären Aufenthaltsstatus einer "Duldung" in Deutschland leben. Eine humanitäre Regelung verweigerten sie ihnen erneut. german-foreign-policy.com sprach mit Volker Maria Hügel vom PRO ASYL-Bundesvorstand über die Resultate des Treffens und über die Lage von Flüchtlingen in Deutschland am heutigen Tag der Menschenrechte.[6] Wie Hügel feststellt, wird gegenwärtig "noch nicht einmal darüber diskutiert, ob man die Abschreckungsmaßnahmen" gegen Migranten, "die hierzulande seit Jahrzehnten praktiziert werden, endlich abschafft". Dauerhafte Unterbringung in Lagern, durch das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz erzwungene Armut und die Verweigerung freier Bewegung im Land verletzten "die Menschenwürde und damit auch die Menschenrechte", urteilt Hügel. Er resümiert: "Flüchtlinge sind nicht Menschen zweiter Klasse, sie sind Menschen dritter Klasse." (Den gesamten Wortlaut des Interviews finden Sie hier.)


Der Blick von außen


Wenig wahrgenommen werden hierzulande Warnungen von Menschenrechtsorganisationen, der Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland und an den Außengrenzen der EU bleibe im außereuropäischen Ausland nicht unbemerkt. Die enthemmte Flüchtlingsabwehr und die Missachtung der Rechte von Migranten drohten "die Glaubwürdigkeit der EU noch stärker zu unterminieren", warnt etwa Amnesty International.[7] Außerdem "beschmutze" die Abschiebekooperation mit Staaten wie Libyen, die schwere Menschenrechtsverletzungen begingen, "den Ruf der EU". Solche Warnungen weisen darauf hin, dass das anmaßende Auftreten Berlins außerhalb Europas, mit dem sich Deutschland als angeblicher "Hüter der Menschenrechte" darstellt und entsprechenden Einfluss verlangt, immer seltener ernst genommen wird. Der uninteressierte Umgang mit fremdem Menschenleben in den europäischen Wohlstandszentren prägt immer stärker das Bild Europas und Deutschlands in aller Welt, das durch den Blick von außen auf die realen Praktiken der "europäischen Zivilisation" entsteht. Interview mit Volker Maria Hügel sowie unser EXTRA-Dossier Festung Europa.



Anmerkungen


[1] JHA: Fill in gaps of Stockholm Programme in relation to irregular migration; Presseerklärung von Amnesty International, 30.11.2009
[2] Das Stockholmer Programm und die traurige Realität an Europas Grenzen; Presseerklärung von Pro Asyl, 30.11.2009
[3], [4] Deutsche Stellungnahme zum Vorschlag der Europäischen Kommission für ein Mehrjahresprogramm für den Bereich Justiz und Inneres von 2010 bis 2014 ("Stockholmer Programm") für den Bereich Innenpolitik; Berlin, 02.10.2009
[5] s. dazu Praktische Unterstützung und Nicht tolerierbar
[6] s. dazu Das Prinzip Abschreckung
[7] JHA: Fill in gaps of Stockholm Programme in relation to irregular migration; Presseerklärung von Amnesty International, 30.11.2009

Artikel übernommen von :: german-foreign-policy.com, 10. Dez 2009.