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[ 06. Feb 2013 ]

Zur Situation der Flüchtlinge in Italien

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"Vai Via!" lautet der Titel des Berichts zur Situation der Flüchtlinge in Italien. Vai Via bedeutet soviel wie "Verschwinde!", und viele Flüchtlinge benutzen den Begriff um zu beschreiben, welche Erfahrung sie in Italien gemacht haben. Auf der Suche nach Unterkunft, Arbeit, Essen, Bildung, immer wieder hörten sie ein "Vai Via".

 

Der Bericht (:: hier als PDF) ist Ergebnis einer rund einjährigen Recherche in den italienischen Städten Mailand und Florenz. Er beschreibt eindrücklich die äußerst prekäre Lage der Flüchtlinge in Italien und erklärt, wieso viele Flüchtlinge, trotz nomineller Anerkennung durch den italienischen Staat, nicht in Italien bleiben können, sondern in der Hoffnung auf ein würdiges Leben in andere Staaten der EU u. Dort droht ihnen jedoch die Rückschiebung nach Italien, eine Erfahrung, die viele Flüchtlinge schon vielmals gemacht haben.

Der Bericht stellt einen Beitrag zur derzeit laufenden Debatte um den gegenwärtigen Zustand des Asylsystems in der EU dar und fordert eine Neuorientierung ein: Das Wohlergehen der Flüchtlinge muss wieder in den Mittelpunkt des Asylrechts gerückt werden.

Der Bericht kann :: als PDF herunter geladen werden. Eine gedruckte Version ist gegen den Preis von EUR 3 unter office (at) bordermonitoring.eu bestellbar.


Warum es keine Abschiebungen nach Italien mehr geben darf


Unser Interesse an der Situation der Flüchtlinge in Italien - zum Begriffsverständnis siehe das Kapitel "Zur Entstehung dieses Berichts" - ergibt sich aus der Fragestellung, was Flüchtlingsschutz in Europa bedeuten sollte und wie dieser in der Realität aussieht. Dabei spielt das europäische System der Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren (die sogenannte :: Dublin II-Verordnung von 2004) eine entscheidende Rolle. Die Dublin II-Verordnung besagt im Wesentlichen, dass der Staat,welcher die Einreise einer oder eines Asylsuchenden ermöglicht hat, auch für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (sogenanntes Verursacherprinzip) und bedeutet konkret, dass Flüchtlinge gezwungen sind, im Land ihrer Ankunft in Europa ihr Asylverfahren zu betreiben. Diese Zuständigkeitsregelung wird durch innereuropäische Abschiebungen durchgesetzt. Sie betrifft in Deutschland insbesondere Asylsuchende, deren Land der ersten Ankunft Italien ist. So wurden 2011 nach Auskunft des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 635 AsylbewerberInnen nach Italien abgeschoben.1 Demnach sind aktuell ca. zwei AsylbewerberInnen täglich von einer Abschiebung aus Deutschland nach Italien betroffen.

Unsere Recherchen haben ergeben, dass die Situation der Flüchtlinge in Italien im Allgemeinen nicht den Standards genügt, die das EU-Recht vorschreibt. Als elementares Problem sehen wir die Tatsache, dass insbesondere anerkannten Flüchtlingen und anderen Schutzberechtigten keinerlei Zugang zu sozialen Sicherungssystemen gewährt wird. Als Konsequenz leiden die meisten Flüchtlinge unter Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, massiver Armut und mangelndem Zugang zum Gesundheitswesen.

Nicht nur die befragten Flüchtlinge schilderten diese Probleme als schwerwiegend und weit verbreitetet, auch die im Felde aktiven NGOs und ehrenamtlich Engagierten bekräftigten dies. Ebenso schildern die Studien der Associazione per gli Studi Giuridici sull'Immigrazione (ASGI, Verband für juristische Studien bezüglich Migration)1a und der Caritas Rom1b die ausweglose Situation der Flüchtlinge in Italien. Auch der Menschenrechtskommissar des Europarats kam im September 2012 zu einer ähnlichen Einschätzung.1c

Neben der Obdachlosigkeit ist das Leben von Flüchtlingen in Italien durch eine gravierende Armut bestimmt. Ein staatliches System zur sozialen Grundsicherung ist in Italien kaum existent, kompensiert wird dieses in den meisten Fällen mit Hilfe von familiären Strukturen. Da Flüchtlinge auf diese nicht zurückgreifen können, fallen sie durch sämtliche Raster gesellschaftlicher Sozialhilfe. Die allermeisten Betroffenen berichteten, dass ihr Alltag von der ständigen Sorge über die nächste Möglichkeit der Essensbeschaffung geprägt sei.

Die weit verbreitete Obdachlosigkeit hat eine weitere Konsequenz: der Nachweis eines festen Wohnsitzes ist Voraussetzung für den Erhalt eines italienischen Gesundheitsausweises und somit für den Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem. Wie die Recherchen ergaben, verfügen die wenigsten Flüchtlinge aufgrund ihrer Obdachlosigkeit über einen solchen Ausweis. Sie haben daher nur Zugang zu einer minimalen, nicht ausreichenden Notversorgung.

Unter diesen Umständen, in Abwesenheit existenzieller sozialer Sicherung, ist eine Integration in die italienische Gesellschaft ein unmögliches Unterfangen. Erschwerend kommt hinzu, dass der italienische Staat kaum Integrationsmaßnahmen anbietet. Abgesehen von einzelnen Pilotprojekten und wenigen AnfängerInnen-Kursen in Italienisch wird kein Beitrag zur sozialen Integration der Flüchtlinge geleistet.

Im Allgemeinen herrschte in Italien ein Gefühl der absoluten Perspektivlosigkeit unter den Flüchtlingen vor. Der soziale Ausschluss, den sie tagtäglich erfahren, findet sich auch im Titel dieses Berichts wieder: "Vai Via!", am besten übersetzt mit "Verschwinde!" oder "Zieh Leine!", war das, was sie täglich zu hören bekamen. Ob bei Behördengängen, auf Arbeits- und Wohnungssuche, immer wieder wurde ihnen eindeutig zu erkennen gegeben, dass sie nicht erwünscht seien. Es ist daher kein Wunder, dass viele Flüchtlinge, trotz des Wissens um Dublin II und trotz ihrer Flüchtlingsanerkennung, eine zweite, dritte, vierte Chance in einem anderen EU-Mitgliedstaat suchen.

Das System der Flüchtlingsaufnahme in Italien ist nicht geeignet, die elementarsten Bedürfnisse der Flüchtlinge auch nur im Ansatz zu befriedigen. Abschiebungen aus anderen europäischen Staaten sind Abschiebungen in das soziale Elend. Im Interesse der Flüchtlinge müssen diese ausgesetzt werden.



Fußnoten

1 Aus: Deutscher Bundestag, Kleine Anfrage von Ulla Jelpke u.a. Bundestagsfraktion Die Linke, BT-Drucks. 17/8577, Antwort vom 10.02.2012.

1a Bericht abrufbar unter: http://www.asgi.it/home_asgi.php?n=2040&;l=it, Stand: 06.08.2012.

1b Bericht abrufbar unter: http://www.caritasroma.it/2012/06/mediazioni-metropolitane-la-ricerca-surichiedenti-asilo-e-titolari-di-protezione/, Stand: 06.08.2012

1c Commissioner for Human Rights of the Rights of the Council of Europe, following his visit to Italy from 3 to 6 July 2012. CommDH(2012)26., abrufbar unter :: wcd.coe.int, Stand: 05.12.2012.

Quelle: :: bordermonitoring.eu