Aussendung vom 27. März 2014, dem 5. Prozesstag in Wr. Neustadt im Prozess wegen des Deliktes der Fluchthilfe, in der rassistischen Amtssprache als "Schlepperei" deklariert. - Alle angeklagten Flüchtlinge wurden enthaftet!
Wien (OTS) - Erleichterung und Freude in Wiener Neustadt: Am fünften Verhandlungstag im Prozess gegen acht Refugees aus dem Umfeld der Refugee-Protestbewegung wurden heute alle Angeklagten auf Antrag der Staatsanwaltschaft nach 8 Monaten enthaftet. Der Prozess wurde von der Richterin auf unbestimmte Zeit vertagt.
"Die Vorgangsweise im Verfahren ist sensationell: Es kann nicht sein, dass das Gericht die Aufgaben der Anklagebehörden macht. Der Prozess wurde vertagt, weil die Richterin aufgrund der Anklageschrift kein seriöses Beweisverfahren durchführen kann. Das Gericht überlegt sich also erst JETZT, welche konkreten Taten den jeweiligen Angeklagten vorgeworfen werden", so Rechtsanwalt Mag. Gerhard Angeler.
Zur Erinnerung: Ende Juli 2013 wurden acht Refugees unter dem Vorwurf, Mitglieder eines "Schlepperringes" zu sein, festgenommen. Wie schon beim Tierschutzprozess wird hier versucht, einen politischen Protest durch Repression zu zerschlagen und eine kriminelle Vereinigung zu konstruieren. In diesem Fall handelt es sich um Aktivisten der Refugee-Protestbewegung, die als Betroffene zum ersten Mal selbstbestimmt auf die Mängel im österreichischen Asylsystem aufmerksam machten. Die Festnahmen erfolgten am zweiten Tag der Abschiebungen von acht Aktivisten nach Pakistan und Ungarn. Diese Vorfälle haben eine breite Solidarisierung der Zivilgesellschaft mit den Abgeschobenen hervorgerufen. Damit Innenministerin Mikl-Leitner mitten im ÖVP Wahlkampf nicht in Erklärungsnot geriet, wurde die durch Hartnäckigkeit unangenehm gewordene Protestbewegung medial als "brutaler, millionenschwerer Schlepperring" denunziert.
"Es ist menschenrechtswidrig, gegen Gruppierungen, die eine Protestbewegung bilden, so vorzugehen und ihnen ein Verfahren zu machen. Das ist ein Versuch, Widerstand mundtot machen", so Rechtsanwältin Dr. Michaela Lehner.
Das nun letzte Woche begonnene Verfahren hat erstmals die Angeklagten zu Wort gebracht. Diese sprechen von Hilfsleistungen bei der Unterstützung anderer Flüchtlinge auf ihrem Weg zu Asylverfahren in EU-Ländern. Es gibt keinen legalen Weg, außerhalb der Festung Europa einen Asylantrag zu stellen. Die momentane europäische Gesetzeslage zwingt Refugees, auch im vermeintlich grenzenlosen EU-Raum Fluchthilfe zwischen den Mitgliedstaaten in Anspruch zu nehmen: Aufgrund der nicht standardisierten Asylquoten migrieren z.B. viele pakistanische Staatsbürger*innen von Österreich nach Italien oder Deutschland, weil sie dort vielfach höhere Chancen auf positive Asylverfahren haben. Genau in diesem Zusammenhang haben die Angeklagten Hilfeleistungen erbracht.
Auch die Richterin verwendet bereits nach dem ersten Verhandlungstag Begriffe wie "Nachbarschaftsdienste" und "Freundschaftsdienste" gegen kein oder nur geringes Entgelt. Die selbst geflüchteten Refugees zeigen sich im Verfahren teilgeständig mit der Begründung, dass es kein Verbrechen sein kann, Freund*innen oder Bekannten auf der Flucht zu helfen.
Ein Refugeeaktivist richtet sich an die Öffentlichkeit: "Wenn du einer Person, die sich in Lebensgefahr befindet, auf der Flucht hilfst, kann es doch kein Verbrechen sein!" Er ergänzt: "Acht Monate Gefängnis, aus welchen Grund? Aufgrund welcher Beweise? Liebe Bürger*innen, unterstützt die Angeklagten. Sie sind keine Menschenschlepper, sondern selbst Geflüchtete, die für ein sicheres Leben nach Österreich gekommen sind." Weiters: "Wenn die Behörden Schlepperei wirklich beenden wollen, sollen sie die Grenzen öffnen!"
Medien und Unterstützer*innen sind bei jedem Verhandlungstag vor Gericht und berichten über die skandalöse und fahrlässige Ermittlungsarbeit der Behörden im polizeilichen Abschlussbericht, auf dem die Anklage basiert: hypothetische Annahmen, kopierte Wikipediaeinträge, Übersetzungsfehler, willkürliche Personenzuordnungen, Faktenüberschneidungen, Konstrukte noch nicht ausgeforschter "Schlepperbosse" im Ausland. Der Akt wird von den Anwält*innen als unwürdig bezeichnet. Auch die Haftbedingungen stellen laut Anwält*innenschaft Verletzungen des Grundrechts auf Privat- und Familienleben dar.
Heute, am fünften und vorerst letzten Verhandlungstag kam die Staatsanwältin den Verteidiger*innen "aus Gründen der Verhältnismäßigkeit" mit einem Antrag auf Enthaftung zuvor. "Die Staatsanwaltschaft hat einen Enthaftungsantrag gestellt, weil die Untersuchungshaft unverhältnismäßig war. Die Angeklagten waren seit Ende Juni 2013 in U-Haft", erklärt Rechtsanwältin Dr. Michaele Lehner. "Es hat sich herausgestellt, dass sich die Anklagepunkte überschneiden, sprich die ermittelnden Behörden sehr oberflächlich gearbeitet haben. Wer, was, wo gemacht hat, ist nicht spezifiziert worden, wie es in einer Anklageschrift sein müsste." Rechtsanwalt Mag. Gerhard Angeler ergänzt: "Die Staatsanwältin hat die letzte Möglichkeit genutzt, das Gesicht zu wahren und hat gerade noch die Kurve gekratzt. Die Anwält*innen hätten in der heutigen Verhandlung ohnehin Enthaftungsanträge gestellt und wären zusätzlich auf die unklare Anklage eingegangen."
"Das Verfahren zeigt, wie wichtig eine starke unabhängige Rechtsanwaltschaft für einen demokratischen Rechtsstaat ist. Das polizeiliche Kartenhausgebilde wackelt ordentlich", schließt Rechtsanwalt Mag. Josef Phillip Bischof ab.
Solidarität mit den Angeklagten ist nach wie vor wichtig! Die Enthaftung entspricht keinesfalls einer Freisprechung. Das Verfahren ist lediglich pausiert. Dies ermöglicht es den Anwält*innen und Angeklagten, sich mit Hilfe von Übersetzer*innen genauer mit dem polizeilichen Abschlussbericht sowie Protokollen der abgehörten Telefonate auseinanderzusetzen. Es handelt sich hier um Berge von Akten und 10 DVDs der Telefonüberwachung. Diese Arbeit benötigt finanzielle Unterstützung. Alle Infos zum Prozess und ein Spendenkonto für Rechtshilfe und Übersetzungsarbeit sind zu finden auf :: solidarityagainstrepression.noblogs.org
Wir fordern Freisprüche für alle angeklagten Refugees!
Kein Mensch ist illegal - Bleiberecht überall!
Migration und Protest dürfen nicht kriminalisiert werden!