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[ 17. Sep 2011 ]

'Ich hatte nicht einmal Zeit, den Kindern tschüss zu sagen'

Astrid auf Irrfahrt.

Astrid auf Irrfahrt. Die Geschichte eines Ashkali-Rom, der 1992 aus dem damaligen Jugoslawien vor den Wirren des Krieges floh. 16 Jahre später wurde er in den Kosovo abgeschoben. Von dort ergreift er etwas später erneut die Flucht, ohne zu wissen, wo er hin soll...

 

Er wollte uns treffen. Er wollte deutsch sprechen, was ihm hier nicht so oft passiert. Wir treffen Astrid, einen großen Kerl mit Gel in den Haaren, im Büro des Zentrums für Minderheiten in Belgrad. Zuerst ist es nicht einfach, seine Herkunft zu erraten: Roma, Albaner, Maghrebiner, Türke...? Er setzt sich mit einem schüchternen Lächeln aufs Sofa. Wir stellen uns kurz vor und erklären, was wir in Serbien machen. Er hört uns geduldig zu, bis er dran ist mit dem Reden. Dann fängt er an, uns eine vollkommen verrückte Geschichte zu erzählen, seine eigene. Über eine Stunde lang fließen die Wörter in Strömen aus seinem Mund. Astrid erzählt uns seine Irrfahrt im Europa des 21. Jahrhunderts.

Astrid ist ein Ashkali-Roma, geboren im Kosovo. Im Jahr 1992, im Alter von 13 Jahren, folgt er seinen Eltern und seinem Bruder nach Deutschland - die Familie flieht vor dem Krieg. Als minderjähriger, junger Flüchtling ging er zur Schule, lernte deutsch, lernte mehrere Berufe und fand Freund_innen. Er hat geheiratet und bekam fünf Kinder. Er arbeitete hie und da, mal als Maler, mal auf dem Bau. Bis hierher ist es eine Geschichte wie viele andere. Die Duldung, sein wackeliger Aufenthaltstitel, musste alle sechs Monate von den Ausländer_innenbehörden erneuert werden. 2007 bekommt er dann einen Brief, der ihm ankündigt, dass er das Gebiet der Bundesrepublik verlassen muss, weil er zu einer Strafe von 80 Tagen Gefängnis auf Bewährung verurteilt wurde. Er erklärt uns (was uns gleich von einem deutschen Kollegen bestätigt wird), dass solche Situationen oft dann passieren, wenn man mit der Zahlung seiner Versicherungsrechnungen hinterher hängt, eine Reihe von Gesetzen gebrochen hat, welche die Rechte von Ausländern einschränken usw. Die Behörden drohen, die ganze Familie abzuschieben - er lässt sich daraufhin scheiden, damit seine Frau und seine Kinder diesem Risiko entgehen. Er wird für einige Monate in Abschiebehaft gesteckt, bis er 2008 in ein Flugzeug nach Priština, der Hauptstadt des Kosovo, steigt. "Ich hatte nicht einmal Zeit, den Kindern tschüss zu sagen, so schnell ging das." Hinflug ohne Rückticket, in ein Land, welches er seit 16 Jahren nicht mehr betreten hat.

Einmal angekommen, erkennt er gar nichts mehr. Alles hat sich geändert, alles wurde zerstört. Er entscheidet, dorthin zurück zu kehren, wo das Familienheim stand - doch das Haus ist ebenfalls nicht mehr da. Mit dem bisschen Geld, was er aus Deutschland mit nehmen konnte, bleibt er einige Zeit im Hotel und überlegt sich, was er unternehmen kann. Die jungen Leute aus dem Viertel fangen an, ihm Probleme zu bereiten: sie sagen, sein Cousin habe eines ihrer Familienmitglieder im Krieg getötet und dass sie sich rächen wollen. Einer der Dorfältesten besänftigt sie, aber Astrid ist weit davon entfernt, sich sicher zu fühlen. Er hält es nicht sehr lange aus und kehrt 2009 nach Deutschland zurück, um ein zweites Mal Asyl zu beantragen. Zu diesem Zeitpunkt ist er psychologisch sehr instabil und bekommt keinerlei Hilfe vom Staat. Am 29. Juli 2009, ein Jahr nach seiner Abschiebung - "Ich bin mir sicher, sie haben das absichtlich gemacht, das kann kein Zufall sein" - wird er bei der Polizei vorgeladen. Aus Angst, wieder abgeschoben zu werden, versteckt er sich. Die Polizei kommt drei mal zu seiner Ex-Frau und stellt die ganze Wohnung auf den Kopf. Die Kinder sind völlig verängstigt, die Frau hält es nicht mehr länger aus. Er entscheidet, Deutschland zu verlassen, ohne genau zu wissen, wohin. Er geht nach Frankreich, in die Schweiz, er schläft draußen und versucht, kleine Jobs zu finden. Eines Tages geht er nach Serbien um zu versuchen, dort etwas aufzubauen. Er konnte nicht länger perspektivlos bleiben, ohne Bleibe, ohne Heimat.

In Belgrad geht zum deutschen Konsulat und lässt sie wissen, wo er sich befindet, damit sie aufhören, seine Familie zu tyrannisieren. Er sucht einen Ort, um sich niederzulassen, und findet schnell ein altes Haus in der Nähe von Belgrad, das er renovieren kann. Seine Freunde schicken ihm Geld aus Deutschland. Er meldet sich bei den serbischen Behörden als Roma an. Die Behörden geben ihm einen Ausweis, wollen ihn aber nicht als Roma anerkennen. Sie meinen, er sei ein Kosovo-Albaner. "Ich habe versucht, alles richtig zu machen, ich haben mich angemeldet, ich bin zur Polizei gegangen um zu sagen, dass ich das Haus gekauft habe, ich habe einen Aufenthaltstitel beantragt, aber sie lehnen es ab, und ich weiß nicht, warum." Es ist lebenswichtig, eine Adresse zu haben: das ist der Schlüssel für alle anderen Rechte, eine Sozialversicherung zu haben, eine Arbeit zu finden, usw. Er hat gerade einen Brief der Behörden bekommen, in dem steht, dass er nicht das Recht hat, sein Haus anzumelden. Ohne Angabe von Gründen. Mit der Unterstützung des Minderheitenzentrums hat er Berufung eingelegt und will seine Rechte verteidigen. Er wartet noch immer auf eine Entscheidung.

Nachdem er sein Haus gekauft hat, hat Astrid gleich seine Kinder eingeladen, her zu kommen. Er hatte sie schon so lange nicht mehr gesehen. Ihr Besuch verlief nicht sehr gut. Die anderen Kinder im Dorf wollten nicht mit ihnen spielen und sagten, sie seien Albaner, Kosovaren. Astrids Kinder verstanden nicht, was sie wollten und wiederholten "Aber nein, wir sind deutsche...!" Sie sind früher heim gefahren, als geplant.

Astrid wird regelmäßig in seinem Dorf beleidigt. Eine Nacht hat jemand einen Stein durchs Fenster geschmissen. Jedes mal, wenn er für einige Tage weg fährt, werden Sachen gestohlen. "Ich kann Nachts vor Angst nicht schlafen - Angst, dass jemand einen Stein auf mich wirft. Das ist nicht normal." Er hat versucht, das Aufenthaltsverbot auf dem europäischen Gebiet gegen ihn aufzuheben. Er will seine Kinder besuchen können, wann er es will. Sein ganzes Leben ist noch dort, seine Familie, seine Eltern, seine Freund_innen. "Ich hätte es niemals vorher gedacht, aber diese Duldung fehlt mir! Hier in Serbien habe ich den Eindruck, ein Asylbewerber zu sein, obwohl ich im Prinzip von hier bin... Was ist in diesem Land passiert?"

Astrid wartet auf die Antwort vom obersten Gerichtshof und hofft, dass die Beleidigungen mit der Zeit weniger werden. Trotzdem, der Gedanke, dass er sich nirgendwo ohne enorme Widerstände niederlassen kann, ermüdet ihn: "Man will mich nicht im Kosovo, man will mich nicht in Deutschland, man will mich nicht in Serbien... Sagt mir doch, wo ich sonst hin soll?"

Artikel bearbeitet übernommen von :: bizegranice.wordpress.com, 21. Aug 2011.