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[ 31. Aug 2017 ]

Ungarn: Terrorvorwurf nach Grenzübertritt - Verfahren geht in die zweite Runde

Solidarität mit Ahmed H.

Die Demokratische Jurist_innen Schweiz publizierten im Juli einen Bericht auf deutsch und :: englisch. Dieser beinhaltet die Hintergründe über den Fall, eine kurze Zusammenfassung des Prozesses samt Urteil vom 15. Juni und der politischen Konsequenzen.

 

Die Jurist_innen erklären ihre Solidarität mit Ahmet und sprechen sich gegen die Kriminalisierung von Migration und Flucht aus.


Am 30. November 2016 wurde Ahmed H. - ein Mann syrischer Herkunft mit zypriotischem Aufenthaltstitel - in Szeged (Ungarn) wegen illegalem Grenzübertritt und Verstoss gegen die Anti-Terrorgesetzgebung für schuldig erklärt, zu 10 Jahren Haft verurteilt und unbegrenzt aus Ungarn ausgewiesen. Am 15. Juni 2017 fand wiederum in Szeged die Appellationsverhandlung statt, woraufhin das Verfahren zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen wurde, während der Beschuldige in Untersuchungshaft verbleibt.

Ahmed H. befindet sich seit September 2015 und damit seit knapp 2 Jahren in Haft. Neben der ungarischen Presse waren auch 2 Vertreter internationaler Medien, Amnesty International Ungarn, einige Unterstützer_innen und eine Vertreterin der Demokratischen Jurist_innen Schweiz anwesend.


Hintergrund


Als Reaktion auf die steigende Zahl Geflüchteter, die 2015 durch die Türkei, über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn - die sogenannte »Balkanroute« - nach Nord- und Westeuropa gelangten, ergriff die ungarische Regierung unter dem rechts-autoritären Orbán Massnahmen, um die sogenannt »irreguläre Migration« nach Ungarn und in die EU zu verhindern. So wurde am 15. September 2015 der Zaun an der Grenze zu Serbien fertiggestellt - und die durch die Errichtung weiterer(1) Grenzzäune physische Abschottung der Festung Europa mit juristischen Mittel ergänzt. Wegen der »durch die Masseneinwanderung entstandenen Situation«(2) rief die ungarische Regierung ebenfalls am 15. September 2015 den Krisenfall aus und gleichentags traten Änderungen des Asylgesetzes sowie des Strafgesetzbuches in Kraft.(3)

Diese Revision des Asylgesetzes sah vor, dass Asylgesuche nur noch in sogenannten an Schengen-Aussengrenzen errichteter »Transitzonen« gestellt werden können, die während des Verfahrens nicht verlassen werden dürfen. Diese Transitzonen an der serbisch-ungarischen Grenze - Röszke und Tompa - nahmen wiederum am 15. September 2015 ihren Betrieb auf(4); anfänglich wurden maximal 100 Asylgesuche pro Tag zugelassen(5) . Der Grenzübergang Röszke, wo in den Tagen zuvor noch mehrere Tausend Personen pro Tag in die EU einreisen konnten, wurde damit von heute auf morgen geschlossen. In der Folge sassen tausende Menschen dort fest.

Seit der erwähnten Revision des Strafgesetzes wird die »illegale Einreise«, d.h. der Grenzübertritt ausserhalb einer Transitzone, mit max. 3 Jahren Freiheitsstrafe bedroht; erfolgt der »illegale Grenzübertritt« im Rahmen von Massenausschreitungen (as a participant in a mass riot) drohen der beschuldigten Person gar bis zu 5 Jahre Haft.(6)

Bereits am 15. September 2015 hatten in Röszke Proteste gegen das neu eingeführte Grenzregime begonnen, welche am Folgetag fortgesetzt wurden - es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, zu brutalem Einsatz von Reizstoffen, Wasserwerfern und Schlagstöcken.(7)


Die »Röszke 11« und der Fall Ahmed H.


Insgesamt wurden 11 Personen verhaftet (die sogenannten »Röszke 11«); darunter Ahmed H., der aber erst in den Tagen nach den Ereignissen in Budapest festgenommen wurde und sich nur an der serbisch-ungarischen Grenze aufgehalten hatte, um seine Eltern und andere Familienmitglieder auf ihrer Flucht von Aleppo nach Deutschland zu unterstützen.

Den sogenannten »Röszke 11« - u.a. ein junger Mann im Rollstuhl sowie die betagte und kranke Mutter von Ahmed H. - wird der illegale Grenzübertritt im Rahmen von Massenausschreitungen vorgeworfen. Einzig Ahmed H. wurde zusätzlich unter dem Anti-Terrorgesetz angeklagt, weil er ein Megafon gehalten und der Polizei mit zwei zum »V« ausgestreckten Fingern ein Ultimatum gesetzt sowie am Grenzzaun Gegenstände gegen die Polizei geworfen haben soll. Ungarn kennt eine besonders offene Terrordefinition: Um einen terroristische Handlung zu begehen, genügt es, wenn eine Forderung gegenüber dem Staat - hier der Grenzübertritt - mit einer Drohung verbunden wird - hier das angebliche Ultimatum resp. das Werfen von Gegenständen in Richtung Sicherheitskräfte.

Der politische Aspekt hinter dem Verfahren wird schnell klar: Als gläubiger Muslim wird Ahmed H. vor Gericht sowie in der Öffentlichkeit zum radikalen Islamisten stilisiert und dient so im - auch in Nord- und Westeuropa - rassistisch aufgeladenen Diskurs als Beleg für die angebliche Bedrohung für die Mehrheitsgesellschaft, die von Geflüchteten und Migrant_innen ausgehe. In diesem Zusammenhang bezeichnet die französische Zeitung »Le Monde« den Beschuldigten sogar als »Orbán's Terroristen« (terroriste d'Orban)(8). Deshalb ist es leider auch nicht erstaunlich, dass Ahmed H. erstinstanzlich in einem Verfahren, welches sogar das EU Parlament als unfair bezeichnet hatte(9), ohne ernstzunehmende Abklärung der Fakten zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt worden ist. Die Staatsanwaltschaft hatte in der Anklageschrift mit 17,5 Jahren weit mehr gefordert, weshalb nicht nur der Beschuldigte, sondern auch die Staatsanwaltschaft Berufung gegen das Urteil einlegte.


Die Verhandlung vom 15. Juni 2017


Nach dem sich die Zuschauer_innen, vor allem Vertreter_innen regierungsnaher Medien, kurz nach dem Mittag im kleinen Gerichtssaal im Berufungsgericht Szeged eingefunden hatten, wurde Ahmed H. mit an einen um den Bauch gelegten Gurt gefesselten Händen sowie Fussfesseln von drei vollvermummten Polizisten einer Sondereinheit in den Saal geführt. Nach Eröffnung des Verfahrens fasst eine der zwei beisitzenden Richter_innen das angefochtene Urteil zusammen. Danach erhält der anwesende Staatsanwalt das Wort, welcher sich im Prinzip vollumfänglich auf das erstinstanzliche Urteil bezieht und gleichzeitig verlangt, die bereits abgelehnten sowie die zusätzlichen Beweisanträge der Verteidigung seien nicht zu beachten. Ohne neue Vorbringen oder Einwände gegen das erstinstanzliche Urteil schliesst er mit dem Antrag, das Strafmass sei zu erhöhen und es sei eine Freiheitsstrafe eher in der Region der ursprünglich beantragten 17,5 Jahre auszufällen.

Demgegenüber kritisiert die Verteidigung, die Begründung des angefochtenen Urteils entspreche über weite Abschnitte Wort für Wort der Anklageschrift. Den Vorwurf des illegalen Grenzübertritts bezeichnet er als »Verbrechen, welches nie begangen wurde«, da sein Mandant mit einer Zypriotin verheiratet ist und sich damit auch im September 2015 rechtmässig in der EU aufgehalten hatte. Betreffend den Terrorvorwurf bemängelt der Anwalt die dürftige Beweislage, die mangelhafte Beweiserhebung sowie die schlechte Qualität des Urteils an sich, da dieses über 200 technische Fehler enthalte. Abschliessend erhält der Beschuldigte das letzte Wort. Dieser betonte die allgemeine Verunsicherung, die wegen der plötzlichen Schliessung der Grenze an jenem Tag in Röszke geherrscht habe. Niemand habe gewusst, was passieren würde, ob die Grenze offen oder zu sei, zu bleibe oder wieder geöffnet werde. Insbesondere gab er zu Protokoll, nach wie vor davon überzeugt zu sein, kein Verbrechen begangen zu haben. Bereits um ca. 14.10 Uhr wurde die Verhandlung geschlossen und die Anwesenden mit dem Hinweis, die Urteilseröffnung werde um 15.00 Uhr erfolgen, in eine kurze Pause entlassen. Damit berechneten die urteilenden drei Richter_innen lediglich 50 Minuten, um zu einem Urteil zu kommen.

Grundsätzlich kann das Berufungsgericht nach ungarischem Prozessrecht kassatorisch oder aber reformatorisch urteilen. In der mündlichen Urteilsbegründung führt der vorsitzende Richter aus, das Gericht könnte gestützt auf die inkonsistenten Akten der Anklagebehörde sowie der Vorinstanz kein Urteil fällen - zu viele Fragen seien ungeklärt. Zudem stimmt das Gericht der Verteidigung zu und stellt fest, dass vorhandene Beweismittel nicht berücksichtigt worden sind. Insgesamt wurde das Verfahren an die erste Instanz zur Neubeurteilung zurückgewiesen. Leider liess es das Berufungsgericht aber beim allgemeinen Appell, es sei zu überprüfen, weshalb welche Beweisanträge abgelehnt worden seien und ob die Ablehnung rechtmässig erfolgt sei, bewenden, statt der ersten Instanz verbindliche Aufträge zur ergänzenden Beweiserhebung zu erteilen. Ebenso entschied das Berufungsgericht, Ahmed H. in Untersuchungshaft zu belassen. Damit befindet er sich nun seit knapp 2 Jahren in Haft und unterliegt nach wie vor strengen Kontakteinschränkungen - so darf er weder Briefe schreiben noch erhalten und der überwiegende Anteil gestellter Besuchsbewilligungen wurde bisher abgelehnt. Vor dem Hintergrund des konkreten Verfahrens lassen sich aus der langen Dauer der Untersuchungshaft zwei Botschaften ableiten: nach innen bedeutet sie eine Demonstration von Härte, nach aussen Abschreckung.

Zwar sind die klaren Worte des Vorsitzenden in der Urteilsbegründung erfreulich, ob diese Worte ohne verbindliche Verankerung im Rückweisungsbeschluss aber Wirkung haben werden, bleibt abzuwarten. Mit der Rückweisung an die erste Instanz entsteht der Raum, dass das Verfahren gegen Ahmed H. künftig »fair« im Sinne der menschenrechtlichen Verfahrensgarantien geführt werden könnte - immerhin. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, dem Verfahren lediglich einen rechtsstaatlichen Anstrich zu verleihen, um den Beschuldigen letzten Endes doch wegen angeblich terroristischer Handlungen zu einer mehrjährigen Haftstrafe zu verurteilen. In welche Richtung sich das Verfahren weiterbewegen wird, kann aktuell nicht vorausgesagt werden - die ungarische Justiz hat in diesem Verfahren ihre Unabhängigkeit aber noch unter Beweis zu stellen.

Die DJS stellen sich hiermit gegen jegliche Kriminalisierung von Flucht und Migration und fordern die sofortige Einstellung des Verfahrens sowie die Freilassung von Ahmed H.!

Demokratische Jurist_innen Schweiz
Bern, Juli 2017



Anmerkungen


1 In den beiden in Marokko liegenden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla wurden erste Grenzzäune bereits Mitte der 90er-Jahre errichtet und auch Griechenland begann an der Grenze zur Türkei schon 2012 mit dem Bau eines Zauns.
2 Ceuta, Melilla, Ungarn: Transitzonen an den Grenzen in der Praxis, Onlinebeitrag ProAsyl, 14.10.2015.
Abrufbar unter :: proasyl.de
3 ebd.
4 Hungary as a Country of Asylum, Bericht des UNHCR, May 2016, N. 15.
Abrufbar unter :: refworld.org
5 ebd., N. 8.
6 ebd., N. 47.
7 Für einen ausführlichen Überblick über die Ereignisse sei auf die Broschüre der Kampagne »Free the Röszke 11« verwiesen :: PDF auf freetheroszke11.weebly.com.
8 La justice hongroise ordonne la révision du procès du «terroriste d'Orban», Le Monde vom 16.06.2017.
Abrufbar unter :: lemonde.fr
9 European Parliament resolution of 17 May 2017 on the situation in Hungary (2017/2656(RSP)), Lit. I.
Abrufbar unter :: europarl.europa.eu

Quelle :: Bericht als PDF auf djs-jds.ch.