Call for Papers für die Ausgabe Nr. 44 der grundrisse. zeitschrift für linke theorie & debatte.
Da der Call for Papers für die nächste Ausgabe der Grundrisse einen
besonderen Fokus auf Religionskritik im Zusammenhang mit rassistischen Ressentiments setzt (siehe unten), ersuchte die Redation der grundrisse um folgende Veröffentlichung auf no-racism.net:
Spätestens mit dem 19. Jahrhundert entwickelt sich - zunächst meist in anonymen Schriften - eine umfassende und offensive Kritik an der Religion,deren bekannteste Vertreter Feuerbach, Stirner, Marx und Nietzsche darstellen. Einerseits richtete sich diese Kritik gegen das Diktat einer idealistischen Philosophie, die als dogmatische Letztbegründung stets die Idee eines allmächtigen und allwissenden Gottes vorschob, der als Erschaffer der Welt auch deren Besitzer war - und andererseits gegen die brutale Herrschaft dieser "göttlichen Ideologie", die vertreten durch Institutionen wie Kirche und Kaiserreiche Unterdrückung, Angst und Schrecken verbreitete. Der säkulare bürgerliche Staat als Folgeerscheinung dieser Religionskritik schien das Problem darin lösen zu wollen, dass er selbst die öffentliche Herrschaft über die Körper beanspruchte, währender der Religion die private Herrschaft über die Seelen überließ. Was hingegen die Geschlechterverhältnisse betrifft, so haben Religionen bis heute nicht nur ideologisch, sondern auch ganz praktisch bei der Unterwerfung von Körpern von Frauen ein gewichtiges Wort mitzureden, wie sich besonders deutlich weltweit bei Kämpfen um gesetzliche Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen zeigt. Und so setzt sich meist unausgesprochen die Kooperation zwischen Religion und Metaphysik, zwischen Religion und Politik zur Erhaltung von diskursiven Machtansprüchen und realen Unterdrückungsmechanismen bis in unsere Gegenwart untrennbar fort, was die Aktualität der Religionskritik, wie etwa zuletzt von Alain Badiou ausformuliert, notwendig zu setzen scheint.
Unser Call for Papers richtet sich jedoch nicht nur an geschichtliche und aktuelle Perspektiven der Religionskritik, sondern eben auch an eine Kritik der Religionskritik. Offensichtlich hat Religion als Sehnsucht nach einer transzendentalen und transformierenden Erfahrung immer wieder die Vernunft sowie die soziale Praxis dazu gedrängt, diesem Anspruch gerecht zu werden. Religion scheint in sich auch ein emanzipatorisches Moment zu bewahren, das im Übereifer der Dekonstruktion allzu oft übersehen wird. Allein Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Befreiung usw. haben ihre Ursprünge in der Religion, seien dies mono- oder polytheistische oder sogenannte Naturreligionen. Religiöse Motive haben in der Geschichte und Gegenwart immer wieder immense Kräfte freisetzen können, die soziale Bewegungen nach Überwindung der herrschenden Verhältnisse gefordert oder zumindest inspiriert haben. Theoretisch bedeutsam wird dies etwa in der Verbindung von Messianismus und marxistischem Denken (wie im Werk Walter Benjamins oder auch Jacob Taubes'), aber auch den unterschiedlichen Spielarten der Befreiungstheologie.
Ein weiterer Punkt einer problematischen Religionskritik äußert sich in Ressentiments gegen die andere/fremde Religion, die über (scheinbare) Kritik kulturelle Rassismen auslebt - und gerade im Antisemitismus des Nationalsozialismus eine unvorstellbare Dimension des Schreckens erreichte. Seit dem 11. September lassen sich auch im Bezug auf den Islam vermehrt systematische Ressentiments beobachten, für die der Islam(ismus) als das große Andere, als das Böse schlechthin herzuhalten hat. Hinsichtlich des Buddhismus und Hinduismus scheint es zwar auf den ersten Blick vermeintlich besser auszusehen, doch auch hier setzen kulturrassistische Formen von Religionskritik spätestens dort ein, wo jegliche philosophische Bemühung aus dem "fernen Osten" sowie traditionelle Konzepte aus dem "afrikanischen" und "indigenen" Raum per se als "Esoterik" diskreditiert werden - während zugleich bewusst oder unreflektiert der abendländisch-kapitalistisch-christliche Anspruch, die universale Wahrheit für sich gepachtet zu haben, aufrecht erhalten wird. Und gerade der orientalistische bzw. (post)koloniale Blick auf nicht-christliche Religionen richtet sich mit Vorliebe auf patriarchale Geschlechterverhältnisse, die dem anderen nicht selten als statisch eingeschrieben zugewiesen werden, als Marker für dessen Rückständigkeit dienen und durch die Ausblendung von Frauen als Akteurinnen innerhalb religiöser Diskurse und Praxen entgegen der eigenen Rhetorik bekräftigt werden.
In Spannung und Umfang der aufgeworfenen Problematik rufen wir für die nächste Ausgabe der grundrisse alle Interessierten herzlich dazu auf, Texte an redaktion/ät[grundrisse.net einzureichen, die eines oder mehrere der beschriebenen Themenfelder behandeln. Deadline für die Abgabe der Texte ist der 10. November 2012.