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[ 18. Mar 2016 ]

Die Türkei ist kein 'sicherer Drittstaat'

Zu diesem Ergebnis kommt ein von Pro Asyl in Auftrag gegebenes Rechts- gutachten von Dr. Reinhard Marx "zur unionsrechtlichen Zulässigkeit des Plans der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, die Türkei als 'sicherer Drittstaat' zu behandeln."

 

Das "Rechtsgutachten zur unionsrechtlichen Zulässigkeit des Plans der Staats- und Regierungschefs der EU, die Türkei als "sicherer Drittstaat" zu behandeln" des renommierten Asylrechtsexperten Dr. Reinhard Marx legt dar, dass die Staaten bei Ausübung von Herrschaftsgewalt an Recht und Gesetz gebunden sind, auch außerhalb ihres Hoheitsgebietes. Der EGMR hat die extraterritoriale Wirkung der EMRK an Bord von Schiffen des Flaggenstaates anerkannt, so Gutachter Dr. Marx. Das Refoulementverbot gilt auch jenseits der Staatsgrenze (S.12). Das europäische Recht muss eingehalten werden. Vor Zurückschieben ist eine Einzelfallprüfung zwingend. Der Flüchtling muss darlegen können, dass die Türkei kein sicherer Drittstaat ist. Marx weist außerdem darauf hin, dass Artikel 19 Absatz 1 der EU-Grundrechtecharta ein Verbot von Kollektivausweisungen enthält.

Nach Art. 13 EMRK ist sicherzustellen, dass ein Flüchtling gegen die ihn belastende Entscheidung einen wirksamen Rechtsbehelf einlegen kann: "Es liegt auf der Hand, dass weder die verwaltungsrechtliche Prüfung noch die gerichtliche Kontrolle auf dem Rettungsboot des Mitgliedstaates, sondern nur auf seinem Hoheitsgebiet durchgeführt werden kann und einerseits Griechenland hierdurch verpflichtet wird, aufgegriffene Flüchtlinge in sein Staatsgebiet zu verbringen, andererseits der Union damit untersagt wird, mit der Türkei durch Abkommen oder auf sonstige Weise zu regeln, dass diese von den Mitgliedstaaten auf hoher See aufgegriffene Flüchtlinge ohne vorgängige Prüfung ihrer Sicherheit in der Türkei durch den betreffenden Mitgliedstaat, also Griechenland, zurückübernimmt", so Dr. Marx (Seite 12).

"Die Türkei beachtet nicht das sogenannte Refoulementverbot: Nach diesem sind sowohl Abschiebungen sowie Zurückschiebungen an der Grenze verboten. Das türkische Recht verbietet es aber gerade nicht, schutzsuchende Flüchtlinge an der Grenze zurückzuweisen (S.15).

Die Türkei hält das Refoulementverbot auch in der Praxis nicht ein. Berichte von Human Rights Watch und Amnesty International belegen die Menschenrechtsverletzungen an Schutzsuchenden durch türkische Behörden. Es kommt sowohl zu Abschiebungen von in der Türkei befindlichen Flüchtlingen als auch zu Zurückschiebungen an der Grenze. AI berichtet, dass türkische Behörden in der zweiten Jahreshälfte von 2015 mehr als hundert Menschen nach Syrien und in den Irak abgeschoben hätten. Des Weiteren wurden syrische Flüchtlinge an der Grenze nach Syrien zurückgewiesen.

Auch nach EU-Recht ist es verboten, die Türkei als "sicheren Drittstaat" zu behandeln. Die Asylverfahrensrichtlinie der Europäischen Union sieht in Art. 38 und 39 vor, dass ein sicherer Drittstaat die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vollständig umgesetzt haben muss. Doch die Türkei hat die GFK mit einem sogenannten geographischen Vorbehalt versehen, der nur Flüchtlingen aus Europa einen Schutz nach der GFK gewährt.

Die Türkei muss für Flüchtlinge als "besonders unsicher" eingestuft werden, so Marx.



Wir dokumentieren im Folgenden das Ergebnis des Rechtsgutachtenss. Das komplette Gutachten findet sich :: hier als pdf.

Die Türkei darf von der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten nicht als "sicherer Drittstaat" behandelt werden. Bereits der geografische Vorbehalt nach Art. 1 B GFK durch die Türkei sperrt die Behandlung dieses Staates als "sicherer Drittstaat". Zwar enthält nur Art. 39 Abs. 2 Buchst. a) RL 2013/32/EU das Erfordernis der vorbehaltlosen Ratifizierung der GFK. Aber auch nach Art. 38 Abs. 2 Buchst. c) RL 2013/32/EU ist der Refoulementgrundsatz nach Art. 33 Abs. 1 GFK zu beachten und Asylsuchenden die Möglichkeit zu eröffnen, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und im Falle der Anerkennung Schutz nach der GFK zu erlangen. Dies setzt die vorbehaltlose Ratifizierung der GFK und damit deren Anwendung auf alle Flüchtlinge unabhängig von ihrer nationalen Herkunft voraus.

Darüber hinaus darf die Türkei nach Unionsrecht auch deshalb nicht als "sicherer" Drittstaat behandelt werden, weil nicht gewährleistet ist, das durch diese das Refoulementverbot nach Art. 33 Abs. 1 GFK und Art. 3 EMRK sowie Art. 3 Abs. 2 des Übereinkommens gegen Folter wirksam angewandt wird. Zwar enthält Art. 61 des "Gesetzes über die Ausländer und den internationalen Schutz" von 2013 ein Abschiebungsverbot im Sinne von Art. 33 Abs. 1 GFK und Art. 3 EMRK. Es fehlt aber die Inkorporation des entsprechenden Zurückweisungsverbotes in das türkische Recht. Berichte internationaler nichtstaatlicher Organisationen belegen, dass Verletzungen des Refoulementverbotes durch türkische Behörden nicht als vorübergehende Einzelfälle bezeichnet werden können. Vielmehr besteht eine systematische Politik der türkischen Regierung, syrische und andere Flüchtlinge am Betreten des türkischen Staatsgebietes zu hindern und zu diesem Zweck unmittelbare Gewalt gegen Flüchtlinge einschließlich ihrer Inhaftierung anzuwenden. In einigen Fällen werden die Flüchtlinge dabei auch körperlich misshandelt. Angesichts dieser auf umfassenden Recherchen mehrerer nichtstaatlicher Organisationen beruhenden Feststellungen darf die Türkei nach Unionsrecht nicht als "sicherer" Drittstaat behandelt werden. Weder Art. 38 noch Art. 39 der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU erlauben den Mitgliedstaaten und der Union als solcher, Asylsuchende und Flüchtlinge zwangsweise in die Türkei abzuschieben, zurückzuweisen oder auf hoher See aufzugreifen und in die Türkei auszuschiffen, noch entsprechende Abkommen mit der Türkei abzuschließen. Dies verletzt auch das Protokoll Nr. 4 zur EMRK und Art. 19 Abs. 1 GRCh.

Quelle :: proasyl.de, 14. Mar 2016.