In Deutschland arbeiten derzeit schätzungsweise 400.000 Frauen und Männer in der Prostitution. Davon sind ca. 60 Prozent Migrantinnen aus 35 verschiedenen Ländern, die Hälfte von ihnen aus Mittel- und Osteuropa. Viele dieser Arbeitsmigrantinnen wissen bereits bei der Ausreise um den Charakter ihrer künftigen Arbeit.
Da die Mehrzahl jedoch über keinen legalen Aufenthaltsstatus verfügt, bleiben sie von rechtlichen, sozialen und medizinischen Strukturen ausgeschlossen. Das BKA spricht 2004 von 845 Fällen von Menschenhandel, 2003 von 1108. Ausgehend von den anfangs genannten Zahlen sind - bei aller Skepsis gegenüber Statistiken - demnach ungefähr ein Prozent der Sexarbeiterinnen Opfer von Menschenhandel.
Im Kontext der in Deutschland stattfindenden WM kursieren besorgte Hochrechnungen über zu erwartende gesteigerte "Zwangsprostitution". Der deutsche Frauenrat alarmierte unter Berufung auf die Frauenbeauftragte des Deutschen Städtetags, Ulrike Hauffe, mit einer Prognose von mehr als 30.000 Frauen, die zur WM eingeschleust werden sollen. Die taz zitierte trotz Skepsis die "bis zu 40.000" aus dem britischen Guardian. Und die Frauenzeitschrift Emma machte aus den mittlerweile vom Deutschen Städtetag dementierten "40.000" zusätzlichen Sexarbeiterinnen gleich "Zwangsprostituierte". Seitdem ist die Kampagne "Abpfiff - Schluss mit Zwangsprostitution" des deutschen Frauenrates Topthema.
Insgesamt konzentrieren sich im Vorfeld der WM 21 von 22 Kampagnen zum Thema Prostitution auf den Menschenhandel. Sie richten sich bundesweit an den Austragungsorten der WM, aber auch in den Herkunftsländern mit Telefonhotlines und Aktionen an Männer als potentielle Freier, sowie mit Beratungs- und Unterstützungsangeboten an Prostituierte.
Um 1900 wundert sich die Anarchistin Emma Goldman darüber, dass der Menschenhandel plötzlich in aller Munde sei, obwohl es keine neuen Erkenntnisse dazu gebe: "Die Prostitution war und ist weit verbreitet; gleichzeitig jedoch geht das Leben seinen gewohnten Gang, und niemand kümmert sich um das Elend und die Not der Leidtragenden."1 Politiker und Medien begegneten diesem Thema mit moralischer Entrüstung, gleichzeitig fasziniere das Thema "Sex and Crime" die Öffentlichkeit. Verschwiegen werde dagegen, dass sich viele Frauen für die Prostitution entschieden, weil sie keine anderen Perspektiven hätten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Es seien die Gesetze und die gesellschaftliche Doppelmoral, die Prostituierte illegalisierten und damit erst in Gewalt- und Abhängigkeitsverhältnisse trieben.
Den medialen Diskurs im Jahre 2006 würde Emma Goldman sicherlich ähnlich kommentieren. Die überwiegende Mehrzahl der Prostituierten entscheidet sich auch heute bewusst für eine Tätigkeit im Sexgewerbe. Die Medienberichterstattung zum Thema "Zwangsprostitution" vermittelt dagegen andere Botschaften. Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft sind "Zwangsprostitution" und "Frauenhandel" dominante Themen. Hintergrundberichte über getäuschte und verschleppte Frauen, insbesondere aus Osteuropa, Forderungen nach einer Bestrafung ihrer Freier und Heldenberichte über Rettungsaktionen von Opfern häufen sich. Eine schaurig lüsterne Mischung aus Sex, Gewalt, Geld und Männlichkeit bildet den Mittelpunkt vieler Berichte.
Die Vermischung von Prostitutionsarbeit mit Menschenhandel brandmarkt Prostitution als moralisch verwerflich, und all diejenigen, die aussehen, als hätten sie keine deutsche Lohnsteuerkarte, erscheinen als mutmaßliche Opfer. Den wirklichen Opfern von Entführung, Freiheitsberaubung oder Vergewaltigung hilft diese mediale Aufregung jedoch nicht. Die Vermischung von Prostitution und Menschenhandel zur "Zwangsprostitution" zieht weit reichende Folgen nach sich, sowohl für die Arbeitsbedingungen von Sexarbeiterinnen2 jeglicher Herkunft als auch für die Migrationspraxis von Frauen aller Berufssparten - und das weit über die Fußball-Weltmeisterschaft hinaus.
Paternalistische Kontrolle
Die fehlende diskursive Trennung zwischen Sexarbeit als einer Tätigkeit zum Gelderwerb - nicht nur von Migrantinnen - und Menschenhandel zum Zwecke sexueller Ausbeutung hat zur Folge, dass diese vor allem für Frauen gängige Form von Migration tabuisiert und ihre AkteurInnen in ihren Rechten und in ihrer Selbstbestimmung geschwächt bis entmündigt werden. In paternalistischer Manier - "die Hure muss vor sich selbst geschützt werden" - werden Migrantinnen, die sich bewusst für die Arbeit in der Sexindustrie entscheiden, um so ihren Lebensunterhalt zu sichern, pauschalisierend zu Opfern krimineller Strukturen gemacht. Diese Vermischung und Kriminalisierung wendet den Blick weg von Ursachen weltweiter Migration wie ungerechter Verteilung von Wohlstand und vielfältigen Diskriminierungen.
Migration und in ähnlichem Maße auch Prostitution werden im staatlichen Diskurs zur Bedrohung von Sicherheit - und verlangen somit nach Kontrolle. Insofern kann auch Migration in Verknüpfung mit Sexarbeit als Autonomiebestrebung gegenüber Kontrollinstanzen betrachtet werden. Jedoch birgt die Arbeit in der Prostitution jenseits legaler Wege die Gefahr, in Ausbeutungsstrukturen und Abhängigkeiten zu gelangen.
Mit der Umdeutung migrantischer Prostitution in Menschenhandel lenkt der Staat von seiner Rolle bei der Entstehung von Ausbeutungsverhältnissen ab. Denn im vermeintlichen Kampf gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution weitet er Kontrollbefugnisse deutscher und europäischer Polizei- und Grenzbehörden aus, erleichtert und legitimiert Razzien und Abschiebungen und verstärkt Einreisekontrollen. Der EU-Justizkommissar Franco Frattini möchte nun mit Visaverschärfungen im Kontext der WM "Zwangsprostitution" verhindern. Die EU-Ratsvorsitzende Liese Prokop will Visa-Daten nutzen, um die Anreise aller Frauen aus ausgewählten Herkunftsländern zu kontrollieren, weil sie bei Großereignissen möglicherweise zur Prostitution gezwungen werden könnten.
Aber: die Stigmatisierung und Kriminalisierung migrantischer Sexarbeiterinnen erschwert deren Eintreten für Migrationsrechte und beschneidet ihre Möglichkeiten, juristisch gegen gewalttätige Angriffe vorzugehen. Die Illegalisierung migrantischer Sexarbeit verschärft also einen ohnehin gewaltanfälligen Bereich und dient darüber hinaus der Abschottung gegenüber allen MigrantInnen.
Deutsche Behörden subsumieren unter dem Begriff "Menschenhandel" sowohl Frauen, die (illegale) Migrationshilfen in Anspruch nehmen, um in Deutschland als Prostituierte zu arbeiten, als auch Frauen, die gegen ihren Willen nach Deutschland gebracht und zur Prostitution gezwungen werden. Maßnahmen, die auf die spezifische Situation der einzelnen Frau zugeschnitten sind, können so nicht getroffen werden. Um eine selbst bestimmte Zukunftsperspektive zu entwickeln, brauchen von Menschenhandel betroffene Frauen einen gesicherten Aufenthaltsstatus, soziale und finanzielle Unterstützung sowie psychische (wie z.B. Traumatherapie) und physische Rehabilitationsangebote. Sexarbeiterinnen, die selbstgewählte Migrationswege gehen, um nach Deutschland zu kommen, brauchen vor allem eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, sowie Unterstützung in ihrer Professionalisierung z.B. im Steuerrecht. Die Vereinheitlichung als Opfer dagegen blendet die Realität vieler Frauen aus und erschwert ein Eintreten für ihre Rechte und Bedürfnisse.
Anerkennung statt Kriminalisierung
Auch für die Sexindustrie hat die Vermischung von Menschenhandel und Prostitution weit reichende Folgen. Jahre lange Bemühungen der Hurenbewegung um die Gleichstellung von Prostitution mit anderen Erwerbstätigkeiten werden zunichte gemacht. Wer derzeit an Prostitution denkt, verbindet sie meist mit Zwang, Gewalt oder Ausbeutung. Die Hurenorganisationen kritisieren, dass bereits die Bezeichnung "Zwangsprostitution" diese Klischees bediene. Es würde ja auch niemand auf die Idee kommen von Zwangs-Aupairerei oder Zwangsmaurerei zu sprechen.
Als weitere Folge des derzeitigen Diskurses ist eine schleichende Entsolidarisierung deutscher mit ausländischen Prostituierten zu beobachten. Deutsche Sexarbeiterinnen führen oftmals die verstärkten Polizeikontrollen im Milieu auf die Anwesenheit von Migrantinnen zurück. Daneben machen sie Migrantinnen für eine Verwässerung von Standards (zum Beispiel der Kondombenutzung) verantwortlich.
Während die Viktimisierung der Frauen deren Handlungsmöglichkeiten einschränkt, wird an die Verantwortlichkeit der Freier appelliert. Sie sollen helfen, die Opfer von Menschenhandel zu lokalisieren und als Zeugen zu gewinnen. Gleichzeitig werden immer häufiger Forderungen laut, Freier von "Zwangsprostituierten" zu bestrafen. Erfahrungen aus Schweden haben allerdings gezeigt, dass eine Bestrafung von Freiern zu einer Verlagerung der Prostitution in die Illegalität führt und Gewalt und Abhängigkeit dadurch zunehmen. ExpertInnen bezweifeln zudem, dass Freier tatsächlich in der Lage sind, Opfer zu identifizieren. Sinnvoller sei es, die Prostitutionskunden zu motivieren, sich mit ihrem Freier-Sein auseinander zu setzen und sich selbst als Geschäftspartner von Prostituierten zu begreifen.
Die aktuelle Diskussion zeichnet für die Weltmeisterschaft das Bild eines Ausnahmezustands wilder Männlichkeit, einer Ansammlung zigtausender Freier in Deutschlands Städten. Das Bild der Fußballfans als gewalttätige und gefährliche Männerhorde steht dem staatlich verordneten Diktat der (Männer-)Gastfreundschaft unter dem Motto "zu Gast bei Freunden" unversöhnlich gegenüber. Mit der Realität haben wohl beide Vorstellungen wenig gemein. Wie bei Messen, Sportveranstaltungen und anderen Großereignissen, die männliche Gäste in die Stadt bringen, wird die Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen auch während der Weltmeisterschaft ansteigen. Die Soziologin Christiane Howe, die seit zehn Jahren Lobbyarbeit für Prostituierte macht, hat jedoch im direkten Umfeld der Spiele Abstinenz beobachtet: "Vor, während und nach den Fußballspielen ist in den Bordellen tote Hose." Zum Teil, weil viele Fans in gemischtgeschlechtlichen Gruppen unterwegs sind, zum Teil, weil sie gemeinsam feiern und dabei viel Alkohol im Spiel ist. Nüchtern betrachtet geht es hier wohl eher um eine maßlose Überschätzung des wirtschaftlichen Potenzials der Weltmeisterschaftstouristen.
Wenn über Prostitution und Gewaltverhältnisse in der Prostitution gesprochen und geschrieben wird, fehlt zumeist eine Sichtweise gänzlich: die der Sexarbeiterinnen. Niemand fragt nach ihren Vorstellungen und selbst bestimmten Zukunftsperspektiven innerhalb und außerhalb der Prostitution. Auch nach hundert Jahren klingt Emma Goldmans abschließende Forderung so richtig wie aufrührerisch: "Nur eine aufgeklärte Öffentlichkeit, die sich frei gemacht hat von der gesetzlichen und moralischen Verfolgung der Prostituierten, kann einen Beitrag leisten zur Verbesserung der gegenwärtigen Zustände." Statt Medienkampagnen und verschärfte Grenzkontrollen zu fordern wäre ein Aufenthaltsrecht für Prostituierte während der WM ein Anfang, um Abhängigkeitsverhältnisse zu entkräften.
Anmerkungen:
1 Emma Goldman: Das Tragische an der Emanzipation der Frau. Berlin 1987, S. 47-48. Zitat gekürzt.
2 Der Begriff Sexarbeit umfasst alle Arten sexueller Dienstleistungen. Er soll die bewusste Wahl der Tätigkeit und eine selbstbewusste Eigendefinition der ProtagonistInnen ausdrücken.
Dieser Artikel von Martina Schuster, Almut Sülzle und Agnieszka Zimowska erschien zuerst in der Zeitschrift :: iz3w Nr. 293 vom Juni 2006.