In Marokko werden die Rechte auf eine menschenwürdige Behandlung von Männern und Frauen im Namen der Grenzsicherung Europas verletzt
Wenig mehr als ein Jahr nach den tragischen Ereignissen vom Herbst 2005 werden Menschen, die sich in Marokko aufhalten, aufgrund ihrer Hautfarbe Opfer der "Sicherheits"-Politik der EU und ihrer "Verbündeten". Sie werden einzig im Namen der Sicherung der europäischen Außengrenzen verfolgt.
Am 23. Dezember 2006 kam es zu umfassenden Razzien marokkanischer Sicherheitskräfte in hauptsächlich von MigrantInnen bewohnten Stadtteilen in Rabat. Dutzende Polizeikräfte und Hilfspolizisten durchkämmten die Wohnungen und verhafteten wahllos Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe - sogar schwangere Frauen und Kinder - um sie an die algerische Grenze zu verfrachten, ein Wüstengebiet in der Nähe von Oujda. Mindestens 240 Menschen waren von dieser Razzia betroffen.
Am 25. Dezember 2006 wurden 40 weitere MigrantInnen in Nador verhaftet und unter denselben Bedingungen an die Grenze gebracht.
Am 29. Dezember 2006 wurden weitere 140 Personen in Lâayoune verhaftet und nach Oujda gebracht. Am 31. Dezember 2006 wurden 43 Personen aus dieser Gruppe an die algerische Grenze gebracht.
Vierzehn Tage nach Beginn dieser Verhaftungen konnten ca. 200 Personen nach Oujda zurückkehren, wobei die Organisationen vor Ort keinerlei Nachricht von ca. hundert MigrantInnen haben, die während der Verhaftungswelle vom 23. Dezember 2006 an der Grenze abgesetzt wurden, oder die in den Autobussen saßen, die am 29. Dezember 2006 aus Lâayoune abfuhren. Nach ZeugInnenaussagen der an der Grenze abgesetzten MigrantInnen wurde den meisten von ihnen ihre Wertsachen abgenommen (Handys, Geld) und vielen ebenso ihre Pässe (Personalausweise und Bescheinigungen des UNHCR). Einige von ihnen wurden gewaltsam angegriffen und Frauen Opfer von Entführungen und Vergewaltigungen. Viele sind körperlich sehr schwach, eine Frau aus der Republik Kongo, im fünften Monat schwanger, verlor ihr Baby.
Die marokkanischen Behörden stellten diese Razzien als Maßnahmen auf Grundlage der Beschlüsse der Regierungskonferenz zum Thema Migration dar, die am 10. und 11. Juli 2006 in Rabat stattfand. Dennoch finden sie außerhalb jeglicher Legalität statt, widersprechen sogar dem marokkanischen Gesetz 02-03, und jeglichen internationalen Bestimmungen, die Marokko unterzeichnet hat, sowie den auf dieser Konferenz anerkannten Prinzipien und Rechten der MigrantInnen. Deshalb können sie kein anderes Ziel verfolgen, als den "guten Willen" Marokkos im Kampf der EU gegen sogenannte "illegale" Migration zu zeigen, auch wenn dieser Kampf ohne Beachtung jeglicher internationaler und nationaler Rechtsvorschriften in Bezug auf die MigrantInnen geführt wird.
Folgende ZeugInnenaussagen liegen vor:
Die Verhaftungen erfolgten aufgrund der "Hautfarbe", ohne Untersuchung des Status der Betroffenen. Die Verhaftungen und Rückführungen an die algerische Grenze erfolgen als Massenabschiebung, was eindeutig gegen das Abkommen über die Rechte der WanderarbeiterInnen und ihrer Familien verstößt (Artikel 22).
Mindestens ein Drittel der Betroffenen (mehr als 50), die nach Oujda gebracht wurden, sind vom UNHCR in Rabat anerkannte Flüchtlinge oder AsylantragstellerInnen, deren Verfahren in der Prüfungsphase ist, andere waren in Besitz von gültigen Reise- und Visadokumenten, Frauen, von denen mindestens drei schwanger waren und Kinder (gegenwärtig 7 Kinder, darunter ein behindertes Kind) erlitten das gleiche Schicksal. Diese Verhaftungen verletzen somit die Genfer Flüchtlingskonvention, insbesondere die Ablehnung von AsylbewerberInnen und Flüchtlingen (Artikel 33) und die Konvention über den Schutz der WanderarbeiterInnen und ihrer Familien, beide von Marokko unterzeichnet, ebenso wie das marokkanische Gesetz, das die Abschiebung von schwangeren Frauen, Kindern, Flüchtlingen und AsylantragstellerInnen verbietet (Artíkel 26 u. 29 des Gesetzes 02/03).
Nach ersten Beobachtungen erfolgten die Verhaftungen und Abschiebungen an die Grenze außerhalb jeglicher gesetzlich zulässigen Verfahrensweise (einschließlich der Vorführung vor den Richter), insbesondere was die Bestimmungen im Gesetz 02-03 (Artikel 23) betrifft.
Diese Abschiebungen, die man als "heimlich" und in jedem Fall als illegal bezeichnen kann, erfolgten außerdem an die algerische Grenze, die seit 1994 geschlossen ist.
Vierzehn Tage nach diesen Ereignissen ist die Lage in Oujda (wo die Temperaturen gegenwärtig bei 0 Grad liegen) für die MigrantInnen dramatisch trotz der Unterstützung, die Organisationen vor Ort zu leisten versuchen. Diese MigrantInnen und Flüchtlinge besaßen in ihrer Mehrzahl eine Wohnung in Rabat, in die sie so bald wie möglich zurückkehren wollen, dies wird ihnen durch die Behörden und Transportunternehmen jedoch - bis auf wenige Ausnahmen - untersagt.
Wir klagen an:
- Die schweren Menschenrechtsverletzungen, die im Namen der Sicherung der Außengrenzen Europas erfolgen.
- Die Haltung und den Druck der Europäischen Union gegenüber den Nachbarstaaten der Union mit dem Ziel der Übertragung der Kontrolle der eigenen Grenzen an "SubunternehmerInnen" und die Folgen, die dies für die MigrantInnen und die Transit- und Herkunftsländer hat.
- Das Schweigen des UNHCR in Marokko, das offensichtlich nicht in der Lage ist, den AsylbewerberInnen und Flüchtlingen den entsprechenden Schutz zu gewährleisten und lediglich die Illusion eines Schutzes aufrechterhält, das unter diesen Umständen Gefahr läuft, lediglich als "Alibi" der europäischen Politik zu dienen, die den Zugang der AsylbewerberInnen zum europäischen Festland behindern.
- Die Nichterfüllung der elementarsten Rechte der MigrantInnen und Flüchtlinge und der internationalen Verträge, insbesondere derjenigen, die sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention beziehen in bezug auf die Rechte der WanderarbeiterInnen und ihrer Familien.
Wir halten die marokkanische Regierung sowie die Regierungen der Europäischen Union für sämtliche Folgen in Bezug auf das Leben und die Gesundheit der MigrantInnen dieser Abschiebungen, die unter unmenschlichen Bedingungen erfolgte, ohne Berücksichtigung jeglicher Rechte dieser Personen für verantwortlich.
Wir fordern die sofortige Rückkehr sämtlicher Abgeschobener in ihre Wohnungen.
Wir verlangen vom UNHCR die Anwendung sämtlicher Mittel zur vollständigen Umsetzung ihres Mandats zum Schutz und die Einbeziehung der Konsequenzen der aktuellen Ereignisse in ihre weitere Tätigkeit.
Wir fordern die Botschaften der Herkunftsländer der Menschen aus den subsaharischen Staaten dazu auf, sich der Situation zu stellen und notwendige Mittel für den Schutz der Rechte ihrer StaatsbürgerInnen zu ergreifen.
Wir fordern die marokkanische Regierung zur Respektierung der von ihr ratifizierten internationalen Abkommen und zur sofortigen Beendigung sämtlicher Aktionen auf, die unter dem europäischen Druck zur Behandlung der Migrationsfrage entstanden.
Wir rufen die Europäische Union auf, sämtliche Mittel und Pressionen zur Übertragung der Kontrolle ihrer eigenen Außengrenzen an Drittstaaten der Union wie Marokko einzustellen.
Wir rufen auf zur Solidarität mit den abgeschobenen MigrantInnen und den vor Ort arbeitenden Organisationen, die trotz bescheidener Mittel versuchen, den Betroffenen zu helfen
Dieser Offene Brief richtet sich an:
- die europäische Vertretung in Rabat, an die Europäische Kommission und an die PräsidentInnenschaft der Europäischen Union
- an den marokkanischen Premierminister, den Innenminister und den Außenminister
- an den Menschenrechtsrat
- an die UNHCR-Vertretung in Rabat und an den Sitz der UNHCR in Genf
UnterzeichnerInnen
ABCDS (Asociación Beni Znassen para la cultura, el desarrollo y la solidaridad), AFVIC (Amigos t familias de las victimas de la inmigración clandestina), AIDE-développement, ALCS (Asociación de lucha contra el Sida), AMDH (Asociación marroquí de derechos humanos), AMERM (Asociación marroquí de estudios y de investigación sobre las migraciones), APDHA (Asociación Pro Derechos Humanos de Andalucía), ARCOM (Asociación de los refugiados y solicitantes de asilo congoleños en Marruecos), Asociación de migrantes africanos en Suecia, ATTAC-Maroc, ATMF (Asociación de trabajadores magrebies en Francia), Caritas, Cimade, Colectivo de refugiados, Consejo de los migrantes, GADEM (Grupo anti-racista de acompañamiento y de defensa de los extranjeros y migrantes), Gisti, Homme et environnement, Migreurop, MDM (Medicos del mundo), OMDH (Organización marroquí de derechos humanos), Reunión de los refugiados marfileños en Marruecos, Refugiados sin fronteras-Maroc, Asociación de jóvenes abogados y abogadas en Marruecos.