Kein Mensch ist illegal! Regulari- sieren, her mit den Papieren! Mehrere tausend Personen nahmen am Samstag, dem 1. Oktober, an der gesamtschweizerischen Sans-Papiers-Demo in Bern teil.
Der Zusammenschluss der schweizerischen Sans-Papiers-Bewegung forderte dabei eine Abkehr von der heuchlerischen Politik im Umgang mit Sans-Papiers.
Über 100'000 Sans-Papiers leben in der Schweiz. Deren Arbeitskraft nimmt man gerne in Anspruch - essentielle Grundrechte werden ihnen aber verwehrt. Seit Jahren verweigert sich die Schweiz einer Politik, welche die irreguläre Situation der Sans-Papiers beenden könnte. Stattdessen illegalisiert sie die Menschen völlig unnötig.
Entgegen dem mehrmaligen Aufruf des Europarates hat die Schweiz eine kollektive Regularisierung von Sans-Papiers immer wieder abgelehnt. Stattdessen hat sie die individuelle Härtefallregelung eingeführt, deren Handhabung seit Jahren einer Lotterie gleich kommt. Mit der heutigen Rechtssprechung sind individuelle Regularisierungen somit praktisch unmöglich. Und die Schweiz tut nichts, um das Los der Sans-Papiers zu verbessern.
Die schweizerische Sans-Papiers-Bewegung forderte an der heutigen Demo deshalb zum wiederholten Male die kollektive Regularisierung der in der Schweiz ansässigen Sans-Papiers. Weitere Forderungen macht sie in der Petition «Schluss mit der Heuchelei!» geltend, welche Mitte Oktober an den Bundesrat übergeben wird. An der Demo nahmen auch mehrere hundert SomalierInnen teil, welche auf die enormen Probleme von vorläufig aufgenommenen Personen aufmerksam machten. Ihre Teilnahme schloss an eine Kundgebung von vor drei Wochen an, seit derer sie vergeblich auf eine Reaktion der Behörden bezüglich ihrer Forderungen warten.
Die Demo wurde von über 100 Organisationen und politischen Parteien unterstützt.
Medienmitteilung, Bern, 1. Oktober 2010
Wer sind die Sans-Papiers?
Sans-Papiers sind Personen, die zwar in der Regel einen Pass oder andere Identitätspapiere, aber keine Aufenthaltsbewilligung besitzen. Die überwiegende Mehrheit von ihnen geht einer Erwerbstätigkeit nach, einige entrichten auch Steuern und Sozialbeiträge. Sie bauen unsere Straßen und Häuser, betreuen unsere Kinder, pflegen unsere kranken und betagten Angehörigen, arbeiten auf unseren Feldern, in Hotels und Restaurants. Damit tragen sie zum Wohlergehen unserer Gesellschaft bei. Dennoch leben diese Menschen unter der dauernden Angst, denunziert, entdeckt, festgenommen und ausgeschafft zu werden.
Gemäss den vorsichtigsten Schätzungen leben in der Schweiz mindestens 100‘000 Personen in dieser Situation. Unter ihnen befinden sich auch die abgewiesenen Asylsuchenden. Viele Personen, die aufgrund unserer restriktiven Migrationspolitik ihr Aufenthaltsrecht verloren haben, schlagen sich ebenfalls in der Klandestinität durch.
Der politische Rahmen
Die schweizerische Migrationspolitik beruht auf dem Zwei-Kreise-Schema: Für MigrantInnen aus der EU herrscht Freizügigkeit, gegenüber Nicht-EU-MigrantInnen gilt eine fast vollständige Abschottung - und das obwohl eine enorme und dauerhafte Nachfrage nach ihrer Arbeit besteht. Das Ausländergesetz und die laufenden Verschärfungen des Asylrechts produzieren immer mehr Sans-Papiers. Ihre einzige Möglichkeit, aus der Klandestinität herauszukommen und ihren Aufenthalt zu legalisieren, ist die Härtefallregelung. Deren Handhabung ist jedoch willkürlich und kommt für die AntragstellerInnen einer Lotterie gleich. Anstatt die Sackgasse, in der die Migrationspolitik steckt, zu benennen, kriminalisiert man die Zugewanderten und spaltet die Sans-Papiers in verschiedene Kategorien, was ihre Situation noch prekärer macht und die Bevölkerung gegen sie einnimmt.
Das im Januar 2008 in Kraft gesetzte Gesetz gegen die Schwarzarbeit ist dafür ein klares Beispiel: Zwar findet dadurch eine faktische Tolerierung der Grauarbeit statt, allerdings sieht die Handhabe in der Praxis nach wie vor anders aus. Aus der berechtigten Angst vor einer Denunziation schrecken die Arbeitgeber vor der Anmeldung ihrer Arbeitnehmer bei den Sozialwerken zurück. Dies hat eine extreme Prekarisierung der Sans-Papiers-ArbeiterInnen und eine Schwächung des Sozialsystems zur Folge.
10 Jahre um aus dem Schatten herauszutreten
Seit der ersten Mobilisierung der Sans-Papiers im Jahr 2001 treten diese Widersprüche immer deutlicher hervor. Heute streitet niemand mehr ab, dass es Sans-Papiers in der Schweiz gibt. Dank dieser verstärkten Sichtbarkeit ließen sich einige Fortschritte durchsetzen:
- ein besserer Zugang zum Gesundheitswesen
- die Grundversicherungspflicht für alle.
- der Zugang zur obligatorischen Schule.
- der Grundsatzentscheid des Parlaments, jungen Sans-Papiers den Zugang zu Lehrstellen zu eröffnen.
Diese Rechte sind gewiss sehr wichtig, können aber wegen des fehlenden legalen Aufenthaltsstatus in der Praxis oft nur schwer eingefordert und umgesetzt werden. Diese fragilen Errungenschaften werden zudem dauernd wieder in Frage gestellt, wie der Bundesrat kürzlich manifestiert hat. Er will die Möglichkeit prüfen, Sans-Papiers über die Schulen und die AHV-Kassen denunzieren zu lassen. Mit solchen Maßnahmen werden Sans-Papiers erneut in die Unsichtbarkeit verdrängt: Sie sollen billigste Arbeitskräfte bleiben, ohne Rechte und Schutz, allein von der behördlichen Gnade abhängig und jederzeit ausschaffbar.
Welche Zukunft?
Migration lässt sich nicht aufhalten. Der Misserfolg aller migrationspolitischen Maßnahmen in den letzten Jahren zeigt dies deutlich. Sie haben bloß die Zahl der Sans-Papiers erhöht und ihre Lebensbedingungen verschlechtert. Es ist an der Zeit, diese Realität anzuerkennen und die Weichen umzustellen - im Interesse der Sans-Papiers, aber auch der Gesamtgesellschaft. Dies ist umso dringender, als unterdessen die dritte Generation von Sans-Papiers heranwächst, die hier erzogen und eingeschult wird.
Quelle :: sanspapiers-bewegung.ch