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[ 02. Jul 2018 ]

Die Dimensionen ziviler Seenotrettung

„Shame on you, Europe“ - Banner auf dem Seenotrettungsschiff Seefuchs.

Gorden Isler: Gedanken zu meinem Besuch auf Malta 25.6.18 – Seefuchs Koje 1 an Steuerboard.

 

Ganz schnell und unverhofft kam das Wiedersehen mit der Seefuchs. Am Samstagnachmittag schlug ich dem gemeinsamen Krisenteam aus Sea-Watch, Sea-Eye und Lifeline vor, dass wir parlamentarische BeobachterInnen einladen sollten, um die Lifeline zu besuchen. Dann ging alles ganz schnell. Jede_r rief bei jenen Abgeordneten an, zu denen sie_er Kontakt hatte. Es kamen viele Absagen. Aber vor allem kamen fünf Zusagen, drei davon aus Deutschland. Am Samstagnachmittag erreichte ich den Hamburger Bundestagsabgeordneten und Sea-Eye-Fördermitglied Manuel Sarrazin (Grüne). Es verging nur eine Stunde, bis er schließlich zusagte am Sonntagmorgen nach Malta aufzubrechen. Unser Mitglied Erik Marquardt überzeugte schließlich die Bundestagsabgeordnete Luise Amtsberg (Grüne). Uns allen war klar, dass das Schicksal der Lifeline für die Zukunft der zivilen SeenotretterInnen von Bedeutung ist. Die spontanen Zusagen der Abgeordneten unterstrichen das noch einmal.

Den NGOs Sea-Watch und Sea-Eye wurde am Samstag untersagt, sich der Lifeline zu nähern. Die Idee unsere FreundInnen gemeinsam mit Lebensmitteln, Wasser und Wolldecken zu unterstützen, konnte so nicht umgesetzt werden. Die Armee übernahm das. Am Sonntag fragten jedoch die Abgeordneten direkt über einen Agenten an und schließlich gab es am Sonntagabend ein Boot für acht Passagiere. Die Abgeordneten aus Deutschland, zu denen auch Michel Brandt (Die Linke), ein portugiesischer und eine spanische Abgeordnete gehörten, machten sich am Sonntag gegen 19 Uhr auf dem Weg zur Lifeline.

Den Abend verbrachte ich so mit jener Crew, die wir vor fünf Tagen vorzeitig nach Valletta zurückholen mussten. Ich erinnere mich noch sehr gut an meine letzte Mission, an meinen Skipper Sampo, der auch ihr Skipper war, an meine lieben FreundInnen der 6. Seefuchs-Mission, welche ich niemals vergessen werde. Vergessen hatte ich innerhalb der letzten vier Wochen aber, wie schnell man sich in so eine Crew einlebt. Als Vorstandsmitglied habe ich zusätzlich ein besonderes Verantwortungsgefühl für mir eigentlich unbekannte Menschen entwickelt. Doch uns alle verbindet der besondere Umstand der gemeinsamen Erfahrungen. So war ich unbeschreiblich erleichtert, sie alle gesund und unversehrt anzutreffen. Es brauchte nur wenige Stunden um mich als Teil dieser Crew zu fühlen, die bereits nicht mehr vollständig war. Ich entschied, bei Ihnen auf der Seefuchs zu bleiben und erfuhr, wie schwer es für sie war, in dieser Mittwochnacht nach Valletta zurückzukehren. Diese Dimension der verschiedensten Emotionen war bis dahin noch nicht unbedingt Gegenstand meiner Gedanken, die sich bis Sonntag allein um das Schicksal der Lifeline und die damit verknüpfte Zukunft der Seefuchs-Missionen drehten. Ich empfinde so unglaublich großen Respekt und so tiefe Wertschätzung für diese Crew, die auf so andere Art und Weise an ganz andere Grenzen geriet. Vielleicht war das wirklich die schwerste Mission dieses Jahres, weil all das geschah, von dem wir heute wissen.

Inzwischen hat Italien die Verantwortung an ein ‚MRCC Tripolis’ übergeben. Matteo Salvini macht ernst. Er verspottet die Lifeline sogar in sozialen Netzwerken. Doch er ist nicht allein. Malta und die Niederlande fühlen sich nicht zuständig. Europa wehrt sich gegen 236 Schiffbrüchige und Deutschland schiebt die Verantwortung auf jene Staaten, die sich nicht zuständig fühlen.

Gegen Mitternacht erreichen die Abgeordneten die Lifeline. Luise Amtsberg beschreibt es so, als hätten sie sich einem Geisterschiff genähert. Alles ist ganz ruhig. Plötzlich schauen sie hunderte Augen an. „Nirgends konnte man hintreten, ohne nicht auf einen Menschen zu treten,“ sagte sie mir am Montagmorgen. Ich treffe Luise und Manuel in einem Café. Sie haben nur wenige Stunden geschlafen und das Café bereits in ihr Büro verwandelt. Ununterbrochen geben Sie Interviews oder reden mit Politiker-KollegInnen. Vielleicht wird heute keine Geschichte geschrieben, denke ich mir, aber vielleicht nimmt diese Geschichte doch ein gutes Ende. „Ich bin hier um genau diesen 236 Menschen zu helfen,“ sagt mir Manuel. In meiner Heimatstadt Hamburg bewegt sich etwas. Die Grüne Landesvorsitzende und Sea-Eye-Crewmitglied Anna Gallina fordert im Hamburger Abendblatt und in einer Videobotschaft, dass die Bundesregierung Verantwortung übernimmt und sagt, dass Hamburg Teil einer humanitären Lösung sein könne. Doch es ist Montagnacht und noch immer keine Lösung in Sicht.

Auf der Lifeline befinden sich auch Crew- und Vereinsmitglieder von Sea-Eye! Ihnen gehört unsere volle Solidarität und unsere Gedanken, bis sie wieder sicher in einem Hafen eingelaufen sind. Bemerkenswert ist die Leistung des gemeinsamen Krisenteams. Federführend sind hier unsere FreundInnen von Sea-Watch. Mehrfach dachte ich, dass ich zukünftig nicht mehr so viel Angst vor solch einer Situation haben muss, wenn solche Freundinnen und Freunde an unserer Seite sind und für die gemeinsame Sache kämpfen, arbeiten und wenig schlafen. Diese Krise bringt uns enger zusammen, wir lernen uns kennen und vertrauen. Doch unsere gemeinsame Zukunft sieht schwierig aus.

Europa grenzt sich ab. Oft haben wir bei Sea-Eye e.V.betont, wie unpolitisch wir sein möchten. Doch mit dem Banner „Shame on you, Europe“ veränderte sich etwas. Gab es je eine politischere Aussage einer anderen Seenotrettungsorganisation? Inzwischen zwingt man uns italienische Innenpolitik und niederländische Verkehrspolitik auf. Der zivilen Seenotrettung wird Politik aufgezwungen, weil sie wichtige Fragen der Migrations-, Europa-, Innen- und Außenpolitik der EU und einzelner EU-Mitgliedsstaaten unweigerlich berührt.

Die Zukunft von Sea-Eye e.V. war immer ungewiss. Das war sie schon zum Zeitpunkt der Gründung des Vereins. Wir werden uns immer wieder fragen müssen, ob die Welt mit unserem Verein besser dran ist, als ohne ihn. Wie wir mit den neuen Herausforderungen umgehen können, das wird sich auch daran entscheiden, wie sich jedes Mitglied zum Verein aufstellt. Zwischen „Das was es jetzt“ und „Jetzt erst recht“ habe ich in den vergangenen Tagen viel gehört oder gelesen. Ich selbst sage immer wieder, dass ich fest davon überzeugt bin, dass es Sea-Eye e.V.älter werden wird, als die aktuelle italienische Regierung. Ich bin dazu bereit, meinen Teil dazu beizutragen.

Atikel übernommen von :: sea-eye.org, hier bearbeitet von no-racism.net.