Sie regen viele Menschen auf: Die Bilder von Menschen, die Grenzen überwinden. Nicht jene Menschen, die über einen EU-Pass verfügen, sondern Menschen aus dem Süden und dem Osten. Sie kommen versteckt im LKW oder mit dem Boot, doch manchmal klettern sie auch über einen Zaun oder schwimmen ins 'gelobte Land'.
Doch hier, in Europa, sind die Menschenrechte nur ein Schein ihrer selbst. Vielen Menschen werden die grundlegendsten Rechte verwehrt, sie werden entrechtet. Eine Form des (staatlichen) Rassismus. Die Ausgrenzung beginnt aber schon vor den geschlossenen Toren. Verdeutlicht wird dies einmal mehr durch die Geschehnisse rund um die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Dort erweisen sich die marokkanischen Sicherheitskräfte als willige Gehilf_innen der EU-Abschottungspolitik und gehen äußerst brutal gegen Migrant_innen und Flüchtlinge vor. Stoppen können sie sie dadurch ebenso wenig wie die befestigen Grenzanlagen der EU.
Nach Europa schwimmen oder klettern
Sechs bis sieben Meter sind sie hoch, die Zäune, die Afrika von Europa trennen. Am Morgen des 17. September schafften es mehr als 100 von etwa 300 Menschen in Zuge eines gemeinschaftlichen Versuches :: über den Zaun von Melilla.
Am 19. September versuchten laut Pressemeldungen erneut 200 Menschen :: über den Zaun in die EU zu gelangen, wobei dies nur 10 von ihnen gelungen sein soll.
Die Ceuta wie Melilla umgebenden EU-Zäune reichen bis ins Meer. Immer wieder versuchen Migrant_innen, diese zu umschwimmen. So wie am Morgen des 17. September 2013, als 300 Leute gemeinsam versuchten von Marokko aus :: schwimmend Ceuta zu erreichen. Mindestens 91 vom ihnen soll dies gelungen sein.
Nur :: einen Tag später konnten erneut etwa 100 Leute die EU-Grenzzäune umschwimmen.
Nicht geschafft haben es erneut mindestens 12 Menschen, die versuchten, auf Booten nach Andalusien überzusetzen. Sie sind auf ihrer Flucht am 17. September 2013 :: ertrunken, während es 161 über die Meerenge von Gibraltar schafften.
Rückblick
Im Oktober 2005 wurde in einer breiteren Öffentlichkeit thematisiert, dass Menschen an den Grenzzäunen von Ceuta und Melilla von marokkanischen und spanische Polizisten erschossen werden. Die Erzählungen von damals sind in Erinnerung geblieben und es gibt jährliche Gedenkveranstaltungen auf der marokkanischen Seite des Grenzzaunes. Rund um Ceuta und Melilla, den spanischen Exklaven auf afrikanischen Territorium, befinden sich die einzigen Festlandgrenzen zwischen Afrika und der Europäischen Union.
Bereits im August 2005 alarmierten Berichte über :: Tote an den Grenzen: Zwei Menschen waren von den spanischen Grenzschutztruppen umgebracht worden. Am :: 28. September und :: 6. Oktober 2005 sowie bei weiteren Versuchen, die Grenze zu überwinden, wurden :: mindestens 14 Menschen getötet. Sowohl spanische als auch marokkanische Behörden versuchten die Schuld von sich zu weisen und beschuldigten sich gegenseitig. In :: Berichten von Migrant_innen werden die Beamten beider Länder verantwortlich gemacht:
"Sie begannen auf uns zu schießen und Tränengas zu werfen. Ich habe neben mir 2 Körper fallen gesehen. Die marokkanische Polizei hat sich uns von hinten genähert und von vorn die spanische Polizei, von denen sich einige auf marokkanischem Territorium befanden. Sie schossen von beiden Seiten, der spanischen und der marokkanischen Seite."
"Beide haben mit scharfer Munition geschossen, die Marokkaner und die Spanier, die Spanier während wir oben auf dem Zaun waren und die Körper fielen herunter. Ich denke an die Toten und ich sterbe von innen."
Nach wie vor wird scharf geschossen. Doch nur selten schaffen es derartige Ereignisse in die Medien. Noch weniger wird über die Gewalt der Sicherheitskräfte berichtet und von den Razzien, die in unregelmäßigen Abständen im ganzen Land stattfinden.
Im Oktober 2005 wurden in Folge von Razzien und Massenfestnahmen 100e Menschen in die Wüste zu Algerien abgeschoben. Dort konnten sie nicht vor, weil das algerische Militär die Grenzen bewachte, und nur schwer zurück in die nächsten Städte, die teilweise sehr weit entfernt waren. Viele Menschen starben damals in der Wüste. Was nichts daran änderte, dass diese Form der Abschiebungen nach wie vor praktiziert wird.
Jene die es schaffen, beispielsweise nach Oujda zu gelangen, ist dort keineswegs sicher. In einem :: Bericht aus dem Jahr 2007 wurde diese Stadt im Nordosten Marokkos als "zu einem großen Internierungslager unter freiem Himmel geworden" bezeichnet. Die MigrantInnen werden von allen Regionen dorthin zurückgebracht und daran gehindert, den Rest von Marokko wieder zu erreichen, mit Hilfe von militarisierten Straßensperren und Abschreckungskampagnen gegenüber Transporteur_innen. Es gibt keine Möglichkeit zur Beantragung von Asyl und Razzien wie Festnahmen finden häufig statt.
Systematische Gewalt
Das Vorgehen gegen Migrant_innen und Flüchtlinge ist begleitet von massiver Gewalt durch die Polizei - :: auf marokkanischer und :: auf spanischer Seite, wo es immer wieder zu regelrechten Verfolgungsjagden und Misshandlungen kommt. Von den spanischen "Grenzschützer_innen" sofort nach Marokko zurückgeschobene Leute und jene, die die Zaunüberwindung nicht schaffen, werden anschließend häufig von marokkanischen Militärs und Polizisten krankenhausreif zusammen geschlagen - in der Regel aber in kein Krankenhaus eingeliefert und nicht regulär-ärztlich behandelt. Ohne Papiere ist ihnen der Zugang zum Gesundheitssystem verwehrt.
In einem Aufruf vom 5. Oktober 2005 verurteilten die "Asociación Pro Derechos Humanos de Andalucía" und das "Chabaka network" aus dem Norden Marokkos die ernsthaften Menschenrechtsverletzungen an Migrant_innen und insbesondere die :: Abschiebungen in die Wüste, in Folge derer zahlreiche Menschen starben.
Den verantwortlichen Politiker_innen scheinen derartige Vorfälle keine Probleme zu bereiten. Bei einem :: Gipfeltreffen der Regierungen von Spanien und Marokko Ende September 2005 wurden Verschärfungen migrationsbehindernder Maßnahmen und der militärische Ausbau der Grenzüberwachung beschlossen. Das hauptsächliche Ziel der Europäischen Politiker_innen war und ist es, Strategien gegen die heimliche Migrantion entwickeln und die Politik des Ausschlusses zu "verfeinern". Marokko macht dabei mit und wird "belohnt". Immer wieder werden mehrstellige Millionen-Eurobeträge zur Verfügung gestellt - vor allem um die Überwachung auszubauen und die Maßnahmen gegen Migrant_innen zu verschärfen. So wurden die Grenzzäune von drei auf sechs Meter erhöht und die Kontrolle durch elektronische Sensoren und mehr Personal ausgeweitet.
Weder Recht noch Respekt
Am 10. und 11. Juli 2006 fand in Rabat, der Hauptstadt Marokkos, eine :: euroafrikanische Minister_innen-Konferenz zum Thema Migration statt - wie nicht anders zu erwarten ging es um weitere Maßnahmen gegen Migration. Nur eine Woche davor starben erneut Menschen am Zaun von Melilla.
Warum versuchen die Migrant_innen und Flüchtlinge Marokko zu verlassen und nach Europa zu gelangen?
"Wir schwarzen Flüchtlinge sehen uns auch einem sozialen und institutionellen Rassismus gegenüber, welchen wir bisher noch in keinem anderen Land erlebt haben. So können Sie verstehen, dass das Maß der Gewalt, welches wir in Marokko erleiden und wo wir schlimmer als Verbrecher_innen behandelt werden, uns dazu veranlasst, unser Leben zu riskieren, um in ein anderes Land zu gelangen, in welchem die Genfer Konvention respektiert wird. Ich hoffe nur, dass dieses mal kein Flüchtling sterben musste und wenn doch, dass sein Tod wenigstens dazu dient, dass die europäischen und internationalen Behörden uns zuhören." (:: Ein Flüchtling von der Elfenbeinküste)
Wird in Europa die Genfer Konvention respektiert?
Auf dem Papier schon. Doch die Praxis sieht anders aus. Nur wenige Menschen erhalten Asyl. Viele werden inhaftiert und abgeschoben - unter der Anwendung von "Zwangsgewalt". Im Inneren der EU ebenso wie an den Außengrenzen.
Warum werden Menschen, die es über den Zaun schaffen, durch eigens dafür vorgesehene Türen im Abschottungswall sofort wieder nach Marokko gebracht und den Übergriffen der dortigen Sicherheitskräfte ausgesetzt? Die marokanischen Behörden erfüllen den Auftrag aus Europa. Und sie erhalten dafür Geld aus dem reichen Norden. Für die Abschottung der Armen vor den Toren der Festung. Schon seit mehreren Jahren sind die Anrainer_innenstaaten der EU in die den Kampf gegen Migrant_innen eingebunden.
Nach wie vor tödliche Gewalt
In der Nacht vom 23. auf den 24. Juli 2013 wollten Migrant_innen die sieben Meter hohen Grenzbefestigungsanlagen um Melilla überwinden. Bei den anschließenden Razzien wurden hunderte Migrant_innen - Männer, Frauen und Kinder - zusammen getrieben, geschlagen und festgenommen. Allein in Nador gab es zwei Tote und zahlreiche Schwerverletzte.
Das Netzwerk Afrique-Europe-Interact :: forderte im August 2013 ein sofortiges Ende der Razzien sowie der Inhaftierungen und Wüsten-Abschiebungen in Marokko. Weiters sollen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden und sämtliche Migrant_innen mit Verletzungen die Möglichkeit erhalten, sich medizinisch in Krankenhäusern behandeln zu lassen - ohne Angst vor Inhaftierung.
Verdrehung der Tatsachen - die mediale Strategie
In den Morgenstunden des 17. September 2013 gelang es mehr als 100 Menschen, den EU-Zaun zu :: überklettern und anschließend bis ins Zentrum von Melilla zu gelangen (siehe Video einer Überwachungskamera der Guardia Civil auf :: YouTube). Die zaunkletternden Flüchtlinge nahmen zunehmend das Recht auf Selbstverteidigung gegenüber den Angriffen der Guardia Civil in Anspruch, die versuchte, sie in Zaunnähe festzunehmen und umgehend nach Marokko abzuschieben, wo sie der Gewalt der marokkanischen Sicherheitsbehörden ausgeliefert werden.
Dies wird jedoch in den Medienberichten verschwiegen, die sich vor allem die Angaben der Behörden wiedergeben. So wie im Online-Standard, der behauptet: "In Melilla hätten die Menschen "sehr gewalttätig" agiert (...). Sie hätten einen sechs Meter hohen Zaun niedergerissen und marokkanische und spanische Polizisten mit Steinen und anderen Objekten beworfen. Sechs Beamte und ein Flüchtling seien dabei verletzt worden." Eine Verdrehung der Tatsachen? Davon ist auszugehen. Die Behörden versuchen damit, ihrem gewalttätigen Vorgehen Rechtfertigung zu verleihen.
So wurden die bereits erwähnten Razzien am 24. Juli 2013 in vielen Medien in Marokko mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass es zuvor einen bewaffneten Angriff mit Stöcken auf die Zäune von Melilla gegeben habe. Behauptungen die den Berichten zahlreicher Zeug_innen widersprechen. Verschleiert wird außerdem die maßgebliche Verantwortung der EU, die die nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainer_innenländer seit Jahren offensiv unter Druck setzt, MigrantInnen auf ihrem Weg Richtung Europa möglichst frühzeitig aufzuhalten. Die verantwortlichen EU-Institutionen wünschen sich eine "Steuerung von Migration und Mobilität", wie in einem entsprechenden "Partnerschaftsabkommen" vom 7. Juni 2013 zwischen Marokko und der EU festgehalten wird. Dieses zielt au Visaerleichterung für marokkanische Staatsbürger_innen im direkten Austausch gegen die Abwehr so genannter irregulärer Migration und Verhandlungen über ein Abkommen zur Rückübernahme illegalisierter Migrant_innen.
Die Erklärung von Larache
Unberücksichtigt bleibt die Kritik an den Auswirkungen dieser Politik, die zur "Sicherung der Grenzen" in Kauf genommen werden. Im folgenden dokumentieren wir Auszüge aus der :: Erklärung von Larache vom Oktober 2005:
"An erster Stelle ist es notwendig die schweren Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, die sich auf beiden Seiten der Grenzen zugetragen haben und dass mit der Beteiligung internationaler Beobachter_innen alles Geschehene aufgeklärt wird und die Verantwortlichkeiten festgestellt werden. Wir lehnen es ab, dass als einziger Weg mit dem Phänomen der Migration zwischen Afrika und Europa umzugehen die Militarisierung und die Verwandlung der Grenzen in neue Mauern der Schande beschritten wird, dieses Mal in afrikanisches Gebiet eingefügt.
Die Europäische Union darf den vorliegenden Problemen, die sich durch die Wanderungen ergeben, nicht mit immer härteren Politiken begegnen, die auf der Undurchlässigkeit der Grenzen basieren, ein ausgefeiltes System polizeilicher Kontrollen, im Rückgang der Asylpolitiken, in Abkommen über kollektive Abschiebungen, in Auffang- und Internierungslager, in die Auslagerung der Asylgewährung und der Einwanderungen, etc. ... Im Gegenteil ist es notwendig großzügige Politiken in Gang zu setzen, die größere Perspektiven eröffnen für eine wirkliche Kooperation der Entwicklung und der Solidarität und die die Menschenrechte retten.
Wir können aus Europa keine Festung machen, die von ökonomischem Egoismus geleitet wird bei der Annahme von einwandernden Personen. Die Ereignisse, die in diesen Tagen in Ceuta und Melilla geschehen sind, passen mehr in den Rahmen dieser Politik des harten und unsolidarischen Profils mit tragischen Konsequenzen als in diesen anderen Entwurf der Kooperation, der Solidarität und der Menschenrechte."
Gedenken an die Toten
Jährlich im Oktober wird auf der marokkanischen Seite des EU-Grenzzaunes von Ceuta, wo 2005 mehrere Menschen erschossen wurden, :: den Toten gedacht und gegen die andauernden Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen protestiert.
Heuer beginnen die Gedenkveranstaltungen am Samstag dem 5. Oktober 2013 in Larache. Am Sonntag, dem 6. Oktober, findet am place des Nations-Unis in Tanger eine Kundgebung statt, von der aus sich eine :: Karawane zum EU-Grenzzaun von Ceuta begeben wird.