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[ 09. Jan 2012 ]

(Dessau) Die Spitze des Eisbergs

Gedenken an Oury Jalloh am 7. Jänner 2011 in Dessau.

Ein Beitrag der no lager gruppe aus Halle über die Zusammen- hänge von Oury Jallohs Tod und dem deutsch-rassistischen Normalzustand.

 

Oury Jalloh verstarb im Januar 2005 in einer Zelle im Dessauer Polizeigewahrsam. Er starb angeblich an den Folgen eines durch einen Brand verursachten Hitzeschocks. Wie es zu einem Brand in der Arrestzelle kommen konnte und warum dieser trotz Überwachungstechnik nicht rechtzeitig bemerkt und gelöscht wurde, ist in unseren Augen bis heute ungeklärt. Doch nicht nur Oury Jalloh ist in den vergangenen Jahren unter der Aufsicht deutscher Behörden und PolizistInnen verstorben.

Wir wollen heute auch :: Laye-Alama Condé gedenken, der am 7. Januar 2005, also am Todestag von Oury Jalloh an der zwangsweisen Vergabe von Brechmitteln in einem Bremer Polizeirevier gestorben ist. Der damalige Innensenator Röwekamp rechtfertigte den Brechmitteleinsatz mit den Worten, "Schwerstkriminelle" (gemeint waren mutmaßliche Kleindealer) müssten halt "mit körperlichen Nachteilen rechnen". Auch in Bremen fand aus diesem Anlass heute eine Gedenkkundgebung statt. Unsere solidarischen Grüße nach Bremen!

Wir wollen und müssen aber auch erinnern an:

:: Halim Dener, 1994 von einem Polizisten in Hannover erschossen.

:: Mareame Sarr, 2001 von einem Polizisten in Aschaffenburg erschossen.

:: Dominique Koumadio, 2006, in Dortmund, auch von einem Polizisten erschossen.

:: Mohammad Selah, 2007, Remscheid, wurde die Behandlung einer schweren Krankheit versagt und ist an deren Folgen verstorben.

:: Christy Schwundeck, im Mai 2011 im Jobcenter Gallus/ Frankfurt am Main von der Polizei erschossen.

Wir gedenken auch der Menschen, die unter ähnlichen Umständen in diesem Land zu Tode gekommen sind und jetzt hier nicht genannt wurden.

Warum aber sind dieses Menschen unter derart brutalen Umständen verstorben bzw. kaltblütig erschossen worden? Weder Oury Jalloh, Laye-Alama Conde noch die anderen Toten haben sich eines Verbrechens schuldig gemacht oder mussten durch die Staatsgewalt an einem solchen gehindert werden. Es muss also andere Gründe und Motivationen geben, die sich hinter dem tödlichen Handeln deutscher Behörden und BeamtInnen verbergen.

Wir sehen in dem Tod von Oury Jalloh nur die Spitze eines Eisberges. Der eigentliche Berg darunter bestehend aus Mechanismen, Strategien und Orte der Ein- und Ausgrenzung bezeichnen wir als rassistischen Normalzustand.


Warum?


Es geht im folgenden nicht darum verschwörungstheoretische Konstrukte von den allmächtigen bösen Behörden und ihren Netzwerken zu bedienen. Sondern es geht darum aus dem Blickwinkel der MigrantInnen und der Migration die Grundlagen des institutionellen und alltäglichen Rassismus zu analysieren, offen zu legen und anzugreifen.

Betrachten wir dafür die Ausgangssituation zum Fall Oury Jalloh:

Dessau, eine ostdeutsche Kleinstadt mit einem sehr geringen Anteil von Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund.
Oury Jalloh kam nach Dessau als Flüchtling und Asylsuchender. Als solcher musste er sich mit den Sondergesetzen, denen Asylsuchende in Deutschland unterliegen arrangieren. D.h. konkret über viele Jahre mit einem unsicheren Aufenthalt zu leben. An einem vorgeschriebenen Ort wohnen zu müssen und möglichst nicht gegen die Auflagen der sogenannten Residenzpflicht zu verstoßen. Aufgrund des Arbeitsverbots nicht seinen eigen Lebensunterhalt erwirtschaften zu können, sondern auf die stark gekürzte Sozialhilfe angewiesen zu sein, die absolut unter dem Existenzminimum liegt. D.h. auch die Verweigerung gesellschaftlicher Teilhabe und kein aktives Mitbestimmungsrecht zu besitzen.

Eine ganze Reihe weiterer ausgrenzender Reglungen könnten an dieser Stelle aufgezählt werden, die massiv in das Leben und die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen eingreifen und deren restriktivsten Auswüchse die Abschiebehaft und die Abschiebung von Asylsuchenden darstellen.

Ausgrenzung kann in diesem Kontext als ein effektives Mittel deutscher Zuwanderungspolitik und als Ausdruck eines institutionalisierten Rassismus verstanden werden.
So produziert die deutsche Migrations- und Asylpolitik eine Minderheit von Menschen zweiter Klasse; ohne Aufenthalt, ohne die hoch gepriesenen gleichen Rechte. Nimmt man aber die Demokratie beim Wort, müssen wir feststellen, dass die humanistischen Maxime: "Alle Menschen sind gleich." und "Die Würde des Menschen ist unantastbar" vor allem durch demokratisch legitimierte Gesetze unterlaufen und gebrochen werden. Demokratie aber heißt, dass alle Menschen das Recht haben, für sich und gemeinsam zu befinden, wie sie miteinander leben wollen.


Zurück zu Oury Jalloh.


Wenn wir uns für eine lückenlose Aufklärung der Todesumstände von Oury einsetzen, müssen wir auch fragen, was ist vor seiner Ingewahrsamnahme und vor dem Brand in seiner Zelle passiert? Warum wurde überhaupt die Polizei durch eine BürgerIn verständigt? Und warum wurde Oury Jalloh mit auf die Wache genommen? Was hat er angestellt oder gar verbrochen?

Den größten "Fehler", den Oury Jalloh begehen konnte, bestand darin eine nicht weiße Hautfarbe zu besitzen. Mit dieser fiel er automatisch aus dem Raster der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft. Abgestempelt als augenscheinlicher Ausländer bot auch Oury Jalloh eine willkommene Projektionsfläche für "den gefährlichen Fremden", den potenziellen Kriminellen und Drogenhändler oder für eine der anderen gängigen Stereotypen.

Nicht nur in Dessau sind Personenkontrollen an z.B. Bahnhöfen oder öffentlichen Plätzen und polizeiliche Willkür für MigrantInnen und Flüchtlinge Alltag. Als Ausgangsindiz für diese Kontrollen reicht schon die Hautfarbe und das Aussehen.

Wieso wurde also Oury Jalloh festgenommen? Was passierte auf dem Polizeirevier vor dem Brand? Wie verlief die ärztliche Untersuchung? Warum wurden bei einer zweiten Obduktion Spuren von Brüchen und Verletzungen im Gesicht des Toten gefunden? Und wieso musste er vollständig fixiert werden?

Fragen für das das bisherigen Gerichtsverfahren gegen die verantwortlichen Beamten keine Antworten liefern konnte. Eine ehrliche Antwort der Angeklagten werden wir wohl kaum bekommen. Und Korpsgeist und behördliche Verschleppung werden auch weiterhin keinen konstruktiven Teil zur Klärung der Todesumstände und Ursachen von Oury Jalloh beitragen.

Auch fällt es uns heute um so schwerer angesichts der Erkenntnisse rund um den sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrund" und deren Verstrickungen mit den deutschen Sicherheitsbehörden, wie dem Verfassungsschutz, Abstand von dem Verdacht eines rassistisch motivierten Mordes im Falle Oury Jallohs zu nehmen.

Es soll uns verboten werden, zu sagen, Oury Jallohs Tod war Mord. Doch wir müssen fragen: Was haben die TäterInnen und das Gericht bis heute unternommen um diesen Vorwurf glaubhaft zu entkräften? In unseren Augen nichts.

Wenn wir heute hier demonstrieren, erinnern wir nicht nur an Oury Jalloh, sondern kämpfen wir auch eine andere, gerechtere und solidarische Gesellschaft; für eine Gesellschaft, die nicht von alltäglichem, unterschwelligem Rassismus durchzogen ist. Um Rassismus etwas entgegen zu stellen, müssen einerseits Denkmuster, wie: "Ich habe nichts gegen Ausländer, aber..." entkräftigt und angegriffen werden. Und auf der anderen Seite steht der Kampf für gleiche Rechte und Bleiberechte für alle Menschen egal welcher Herkunft, welcher Kultur und Religion, egal mit welchem Pass oder mit welcher Hautfarbe.

Das Problem sind nicht die MigrantInnen und Flüchtlinge. Das Problem ist eine Politik, die Rassismus und Armut produziert. Das Problem ist auch eine Gesellschaft, die sich über Ausgrenzung definiert.

In diesem Sinne gedenken wir den über 180 Opfern rassistischer und struktureller Gewalt hier und überall!

Für kein ruhiges Hinterland!
No border! No nation!

Artikel von no lager halle, zuerst veröffentlicht am 07. Jan 2012 auf :: de.indymedia.org.