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[ 20. Oct 2012 ]

Gegengipfel der Migrant_innen

Trotz der arabischen Revolten hat sich an der repressiven Migrationspolitik der nordafrikanischen Staaten wenig geändert. Doch nun organisieren sich die Migrant_innen.

 

Sie waren verabredet, um sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen und zu beglückwünschen. Die Repräsentant_innen von jeweils fünf Regierungen von der Nord- und der Südseite des Mittelmeers trafen sich am 5. und 6. Oktober 2012 in der maltesischen Hauptstadt La Valetta. Vertreten waren Marokko, Mauretanien, Algerien, Tunesien und Libyen von nordafrikanischer und Portugal, Spanien, Frankreich, Italien sowie die Inselrepublik Malta von europäischer Seite.

Anderthalb Jahre nach dem Beginn der arabischen Revolten versicherten beide Seiten sich der historischen Bedeutung ihres Dialogs. In ihrer Abschlusserklärung hoben sie »das gemeinsame Kulturerbe« sowie »die Bestrebung aller Völker der Region nach einer Partnerschaft mit den Zielen der Demokratie, der Stabilität, der Sicherheit und des Wohlstands« hervor. Hinter so hochtrabenden und wohlklingenden Erklärungen bleiben die realpolitischen Ergebnisse solcher Gipfeltreffen in der Regel zurück.

Als es darum ging, konkret zu werden, sprach der tunesische Übergangspräsident Moncef Marzouki dann in einem Punkt Klartext: »Eine gemeinsame Task Force«, also einer Art schnelle Eingreiftruppe, zur »Immigration« solle bald gebildet werden. Und zwar, um »diese Auswanderung« - gemeint war die sogenannte illegale - »zu verhindern« sowie Schiffbrüchige aus dem Meer zu retten und »Tragödien zu vermeiden«. In naher Zukunft soll ein Treffen der »Fünf plus Fünf« in Tunis zu diesem Thema stattfinden, um »technische Einzelheiten zu klären«.

Tunesien ist immerhin das Land in der Region, aus dem wohl die am wenigsten negativen Nachrichten über Migrationspolitik kommen. Zumindest haben die tunesische Übergangsregierung und das italienische Kabinett eine Überarbeitung der bilateralen Abkommen zu diesem Thema angekündigt. Am 13. September hatten sich Vertreter_innen beider Regierungen getroffen, eine Woche, nachdem ein Boot mit über 100 tunesischen harraga, illegalisierten Flüchtlingen, in der Nähe der südlich des italienischen Festlands liegenden Insel Lampedusa gekentert und mehr als 50 Menschen zu Tode gekommen waren.

Bei dem bilateralen Treffen wurde angekündigt, man wolle die genauen Ursachen für die Auswanderung junger und oft beruflich qualifizierter Tunesier_innen erforschen und die Abkommen zur Migrationspolitik prüfen. Hierfür soll eine Untersuchungskommission eingesetzt werden, die ein »globales Herangehen« statt einer rein sicherheitspolitischen Abschottungspolitik ermöglichen soll. Allerdings fügten die Regierungsvertreter_innen hinzu, dass Tunesien von Italien die Lieferung der Fregatten und Jeeps verlange, die im April 2011 zugesagt worden seien, »um die tunesische Küstenwache zu verstärken und um illegale Auswanderung zu bekämpfen«.

In den Blickpunkt von Menschenrechtsvereinigungen und Aktivist_innen rückt derzeit die Migrationspolitik in Marokko. Dort nimmt der staatliche Druck auf Migrant_innen zu, vor allem, wenn sie nach Europa weiterreisen wollen, immer mehr Fälle von inhumaner Behandlung werden bekannt. Denn wie überall in Nordafrika ist die Europäische Union auch in Marokko bestrebt, mit Geld, dem Versprechen ökonomischer Hilfe und diplomatischem Druck ihr Grenz- und Kontrollregime an die Regimes in der Region zu delegieren. Am 2. Oktober gab die :: Internationale Organisation für Migration (IOM) bekannt, dass sie 620 000 Euro an Marokko auszahlen will, um ein »freiwilliges Rückkehrprogramm« für 1 000 subsaharische Flüchtlinge zu lancieren. Diesen soll dadurch die Rückkehr in ihre Herkunftsländer finanziert werden. In Einzelfällen mag dies dem Wunsch von Betroffenen entsprechen, die auf ihrer langen Reise ohne Geld und Ausweispapiere in Marokko hängengeblieben sind und den Traum von der Weiterreise aufgegeben haben. Gleichzeitig erhöht es jedoch auch den Druck auf Migrant_innen, zurückzugehen.

Zwischen 150 und 200 der Migrant_innen, kamen am ersten Wochenende im Oktober, fast zur gleichen Zeit wie die staatlichen Repräsentant_innen auf Malta, ins ostmarokkanische Oujda, wo sie gemeinsam mit marokkanischen Menschenrechtsaktivist_innen, Gewerkschafter_innen sowie Vertreter_innen von Migrant_innen- und Solidaritätsvereinigungen aus Frankreich, Belgien und Spanien am »Sozialforum der Migrant_innen« teilnahmen. Rund 500 Menschen, die zu einem Drittel aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara und gut zur Hälfte aus Marokko und Algerien stammen, fanden sich zu diesem Treffen ein, das das zweite seiner Art war. Ein erstes Sozialforum zum Thema Migration hatte im Dezember 2010 in Brüssel stattgefunden. Das zweite Treffen bildete einen Teil der Vorbereitungen für das Weltsozialforum in Tunis im März kommenden Jahres, sowohl das Treffen in Oujda als auch das Weltsozialforum werden vom Sozialforum des Maghreb ausgerichtet.

Eine in Paris lebende Marokkanerin bekundete ihr »Entsetzen« darüber, dass Rassismus nicht nur eine Sache der klassischen Einwanderungsländer in Europa sei, sondern ebenso in den bisher eher als Auswanderungsstaaten geltenden Ländern Nordafrikas existiere. Damit werde man in Polizeibehörden und staatlichen Stellen, aber auch in Teilen der Zivilgesellschaft konfrontiert. Die kamerunische Jugendliche Ingrid* hatte zuvor in Tränen aufgelöst der Versammlung berichtet, wie sie von marokkanischen Polizisten vergewaltigt wurde.

Hélène, die ebenfalls aus Kamerun stammt, stellte auf dem Podium dar, wie besonders Frauen - mehr noch als männliche Migranten - zu Opfern der Repressionspolitik der Behörden in Marokko und in anderen Nachbarstaaten würden. Nicht allein wegen sexueller Gewalt, sondern weil ihnen aufgrund ihrer Illegalisierung der Weg zu Krankenhäusern und Gebärstationen verschlossen bleibe. Weil ihren Kindern die Ausstellung von Geburtsurkunden verweigert werde und sie deswegen keinen Zugang zu Schulbildung hätten. Weil sie ebenso wie die Männer in weiter vom EU-Territorium entfernte und oft wüstenhafte Landesteile gekarrt und dort einfach ausgesetzt würden, wenn Polizisten sie in der Umgebung der spanischen Enklaven in Marokko - Ceuta und Melilla - aufgegriffen haben.

Pierre, ein westafrikanischer Einwanderer, konstatierte, die Situation habe sich in den vergangenen Jahren erheblich gewandelt. Bis zu den dramatischen Ereignissen im Oktober 2005, bei denen über zehn afrikanische Migrant_innen am Grenzzaun von Melilla erschossen wurden - bis heute schieben sich marokkanische und spanische Grenzpolizei gegenseitig die Verantwortung dafür zu -, hätten auch die Migranten Marokko nur als Durchgangsstation auf dem Weg nach Europa betrachtet. Aber nun sähen viele von ihnen, nachdem sie hinsichtlich der Einreisemöglichkeiten in die Festung Europa resigniert hätten, den nordafrikanischen Staat als Aufenthaltsland an.

Deswegen kämpfen viele von ihnen erstmals dort um ihre Rechte. Die Organisation Démocratique du Travail (ODT) - eine marokkanische Gewerkschaft, die erst 2006 entstand - gründete im Juli eine eigene Migrant_innengewerkschaft. Über 50 ihrer meist aus subsaharischen Staaten eingewanderten Mitglieder waren nach Oujda gereist. Serge, Vorsitzender eines Vereins in Marokko lebender Kameruner_innen, erzählte der Jungle World von den Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche: »Hier in Marokko ist das Kriterium oft die Frage: Bist du Muslim? Wenn du ja sagst, kannst du einen Job finden, etwa auf Baustellen oder auch um Kindern Französisch beizubringen. Aber wenn sie herausfinden, dass es nicht stimmt, oder wenn du angibst, einer anderen Religion anzuhängen, werfen sie dich hinaus.« Eine Leitkultur gibt es offenkundig auch in Marokko.

In Oujda, nur fünf Kilometer von der algerischen Grenze entfernt, die seit 1994 für jeglichen Personenverkehr geschlossen ist, findet die Forderung nach offenen Grenzen auch bei der örtlichen Bevölkerung vielfach Zustimmung. Über eine Sitzblockade zum Abschluss der Tagung an der nahen Grenze, deren Öffnung gefordert wurde, haben die marokkanische und die algerischen Presse ausführlich berichtet. Eine offene Debatte über Migrationspolitik und Rassismus kommt in diesen Ländern, die sowohl Einreise- als auch Ausreisestaaten sind, nun erstmals in Gang.


* Name geändert

Artikel von Bernhard Schmid, zuerst erschienen auf :: jungle-world.com, Jungle World Nr. 42, 18. Oktober 2012.