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[ 01. Jul 2018 // letzte änderung: 04. Jul 2018 ]

Rahmenbedingungen für die Seenotrettung sind nach EU-Gipfel widersprüchlich

Aquarius - Photo: Perrine Baglan / SOS MEDITERRANEE

Berlin/Marseille, 30. Juni 2018 - Das gemeinsam von SOS MEDITERRANEE und Ärzte ohne Grenzen betriebene Rettungsschiff Aquarius hat am Freitag, den 29. Juni, den Hafen von Marseille für den geplanten Crewwechsel erreicht. Die zurückliegende Mission war die wohl schwierigste Rotation seit Beginn der Rettungseinsätze vor über zwei Jahren.

 

Die Entscheidungen des Europäischen Rates zur Migration führen weiterhin zu Widersprüchen und Ungereimtheiten im Mittelmeer – Antworten zur humanitären Tragödie im Mittelmeer bleiben offen.

Während die Aquarius bis nach Marseille fahren musste, um den geplanten Teamwechsel vorzunehmen, neigte sich der Gipfel des Europäischen Rates dem Ende. SOS MEDITERRANEE bedauert, dass die 28 Staats- und Regierungschefs trotz der Tatsache, dass das Thema Migration ausnahmsweise den ihm gebührenden Platz auf der politischen Agenda gefunden hatte, die Notwendigkeit verkannt haben, konkrete Antworten auf die humanitäre Tragödie im Mittelmeer zu geben.

Dargelegte Lösungen für auf See gerettete Menschen sind verwirrend und unkonkret. Darüber hinaus bieten sie keinerlei Handlungsrahmen für Schiffe, die an Rettungseinsätzen beteiligt sind. Schlimmer noch ist, dass die 28 Mitgliedsstaaten ihre Bereitschaft bekräftigen, die Abfangkapazitäten der libyschen Küstenwache zu verstärken. Am 28. Juni wurde eine libysche Seenotleitstelle von der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO) offiziell anerkannt – obwohl allgemein bekannt ist, dass Libyen kein sicherer Ort ist und Menschen dort schlimmste Menschenrechtverletzungen drohen.

All das ist unvereinbar mit maritimen und humanitären Konventionen, von denen die EU Mitgliedstaaten geleitet zu sein vorgeben. Während die europäische Mitgliedsstaaten demnach weiterhin politische Entscheidungen vor Menschenleben stellen, bereitet sich die Aquarius nach einer gründlichen Prüfung der politischen Lage darauf vor, den Rettungseinsatz so schnell wie möglich fortzusetzen.


Anlegen in Marseille nach bisher schwierigster Mission der Aquarius


„Während der letzten Mission wurden wir Zeuge von drei absolut inakzeptablen Entwicklungen: wie sich die die humanitäre Tragödie im Mittelmeer ungebremst fortsetzt und Menschen sterben, wie die libysche Küstenwache weiterhin Schutzsuchende auf hoher See abfängt und in die libysche Hölle zurückbringt und der Behinderung der rechtlichen Verpflichtung Menschen zu retten“, sagte die Geschäftsführerin von SOS MEDITERRANEE Deutschland, Verena Papke, in Marseille.

Vor zwei Wochen war die Aquarius mit mehr als 600 geretteten Menschen an Bord zu einer tagelangen Irrfahrt über das Mittelmeer gezwungen worden, obwohl die Seefahrtskonventionen die zuständigen Behörden dazu verpflichten, Überlebende ohne Verzögerung im nächstgelegenen, sicheren Hafen an Land zu bringen. Am Sonntag, den 17. Juni, konnten die 630 Bootsflüchtlinge endlich an Land gehen. SOS MEDITERRANEE verurteilte die „erzwungene und inakzeptable Odyssee“ scharf und appellierte zugleich an die europäischen Staats- und Regierungschefs, ihrer Verantwortung nachzukommen und ein europäisches Rettungsprogramm im Mittelmeer einzurichten, das auf der Achtung der grundlegenden Menschenrechte beruht.

Zurück im Rettungsgebiet im zentralen Mittelmeer hat die Aquarius am 23. Juni in Abstimmung mit der maltesischen Seenotrettungsleitstelle nach einem Boot gesucht, das von den maltesischen Behörden vor Tunesien in Seenot gemeldet worden war. Das Boot wurde nie gefunden.

Am 24. Juni erhielt die Aquarius über das Warnsystem Navtex, mit dem alle Schiffe ausgestattet sind, insgesamt sieben Meldungen über Boote mit bis zu 1.000 Menschen, die in internationalen Gewässern östlich von Tripolis in Seenot geraten waren.

Bei Ankunft vor Ort erfuhr die Aquarius-Crew, dass die Boote von der libyschen Küstenwache abgefangen worden waren und somit mehr als 800 Menschen nach Libyen zurückgebracht wurden. Über den Zustand der Boote oder mögliche Todesopfer gab es keine Informationen. Am Ende des Tages sichtete die Aquarius ein Schiff der libyschen Küstenwache, das mit mehreren hundert Menschen an Bord auf seinem Weg zurück nach Libyen war.

Als die Aquarius am Montag für einen geplanten technischen Zwischenstopp (zwecks Crewwechsel und Aufstockung von Nahrung und Treibstoff) in einen Hafen einlaufen musste, wurde ihr die Einfahrt in einen maltesischen Hafen ohne jegliche Erklärung verweigert. Wohl wissend, dass die Aquarius in Italien, wo sie üblicherweise ihre Zwischenstopps einlegt, derzeit nicht willkommen ist, musste sie weiter in Richtung Norden zum Hafen von Marseille, Frankreich fahren. Dort ist sie am Freitag, den 29. Juni eingetroffen.

Das Ergebnis des Europäischen Rates und die Anerkennung der Seenotrettungsleitstelle in Libyen durch die Internationale Seeschifffahrts-Organisation verschlimmern die Widersprüche und Ungereimtheiten im Rahmenwerk, in dem Such- und Rettungsaktionen im zentralen Mittelmeer durchgeführt werden. Es ist dringendst notwendig, zu einer strikten Auslegung des Gesetzes zurückzukehren, das als einzige Grundlage für die Rettung von Menschen in Gefahr dienen sollte.

Pressemitteilung von SOS MEDITERRANEE vom 30. Juni 2018, zuerst veröffentlicht auf [https://sosmediterranee.de/press/sos-mediterranee-rahmenbedingungen-fuer-die-seenotrettung-sind-nach-eu-gipfel-widerspruechlich/]sosmediterranee.de[/urlext].