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[ 08. Sep 2015 ]

Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration

Der March of Hope verlässt Budapest.

Bahnhof Budapest Keleti, in der Nacht von Freitag, 4. September 2015 auf Samstag. Kurz nach Mitternacht. Busse des öffentlichen Nahverkehrs kommen an, von Ungarns Regierung geschickt, um die Flüchtlinge, die dort seit rund einer Woche campieren, an die ungarisch-österreichische Grenze zu bringen. Noch misstrauisch, ob es sich erneut um einen hinterhältigen Trick der Regierung handelt, warten viele Flüchtlinge erst einmal ab.

 

Doch langsam besteigen sie die Busse und machen sich wieder auf den Weg, an die nächste Grenze. Nach Tagen des Ausharrens sind sie wieder unterwegs, und nach Tagen brüllender Hitze setzt plötzlich, als ob auch das Wetter einen Schlußstrich unter diese Woche der Kämpfe setzen will, leichter Regen ein.

Im Laufe der Nacht und am darauf folgenden Tag überschreiten mehr als 10.000 Flüchtlinge die österreichische Grenze. Österreich und Deutschland hatten sich bereit erklärt, sie einreisen zu lassen. Viele weitere machen sich auf den Weg. Wir wollen in diesem Artikel rekapitulieren, was sich in der Woche in Ungarn und Europa zugetragen hat und einschätzen, was es für die Zukunft des europäischen Migrations- und Grenzregimes bedeutet.


Ungarns Position im EU-Grenzregime


Seit dem faktischen Ausscheiden Griechenlands aus dem Dublin-System im Jahr 2011 stellt Ungarn den südlichsten Schengen- und Dublinstaat im Südosten der EU dar, da sich der Schengenbeitritt Rumäniens und Bulgariens beständig hinauszögert. Die aktuell gängige Route, die Flüchtlinge auf dem Weg aus der Türkei in den Norden der EU einschlagen, führt über die Nicht-EU-Staaten Mazedonien und Serbien. Wenn auch rechtlich nicht unumstritten ist Ungarn daher zumindest auf dem Papier für die Durchführung der meisten Asylverfahren der Flüchtlinge verantwortlich, die über den Balkan reisen. Auffällig viele Flüchtlinge berichteten uns gegenüber über Misshandlungen durch die ungarische Polizei direkt nach dem Grenzübertritt aus Serbien: Die Flüchtlinge werden nach dem Grenzübertritt routinemässig für einige Tage inhaftiert, auch Frauen mit kleinen Babys, offiziell zur "Registrierung". Doch selbst anerkannte Flüchtlinge sind in Ungarn regelmässig von Obdach- und Arbeitslosigkeit betroffen. Die allgemein schlechte wirtschaftliche Lage in Ungarn, welches stark von der Finanzkrise 2008 betroffen war, betrifft auch Flüchtlinge. Hinzu kommt die nationalistische und offen rassistische Orientierung der ungarischen Regierung unter Victor Orbán. Ihre Abneigung gegenüber Flüchtlingen stellte die Regierung erst kürzlich sogar ganz öffentlich und landesweit auf Plakaten zur Schau: "Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn keine Jobs wegnehmen" stand da etwa zu lesen.

Im Juni 2015 machte die ungarische Regierung einen offensiven Schritt nach vorne: Es wurde öffentlich verkündet, dass aus "technischen Gründen" keine Dublin-Rücküberstellungen mehr akzeptiert werden würden. Diese Ankündigung musste nach erheblichem Druck, vor allem von Österreich, allerdings schon einen Tag später wieder zurückgenommen werden. Sie diente wohl vor allem dazu, Druck auf den EU-Gipfel am 25./26. Juni auszuüben, auf dem es auch um die Asyl- und Migrationspolitik gehen sollte und bei der die Ergänzung Dublins durch ein freiwilliges Quotensystem diskutiert wurde. Weiterhin war zum damaligen Zeitpunkt bereits mit dem Bau eines rund 175 km langen Zaunes an der Grenze zu Serbien begonnen worden, was innerhalb der EU massivst kritisiert wurde.

Nachdem seit dem Frühling 2015 die Ankunftszahlen in Griechenland immer weiter gestiegen waren und sich immer mehr Flüchtlinge über die Balkan-Route auf den Weg nach Norden machten, kamen auch immer mehr Flüchtlinge in Ungarn an. Während im Juli "nur" jeweils 1.000 bis 1.500 Personen pro Tag an der Grenze zu Serbien aufgriffen wurden, stieg die Zahl immer weiter an und lag zuletzt zeitweilig sogar bei über 3.000 pro Tag. Spätestens an diesem Punkt war der eigentliche Plan der ungarischen Regierung, möglichst viele der Flüchtlinge über einen längeren Zeitraum zu inhaftieren und damit einen Abschreckungseffekt zu generien, obsolet. Es fehlten schlichtweg die Kapazitäten, um Zehntausende längerfristig zu inhaftieren; die Flüchtlinge wurden nach ein paar Tagen frei gelassen und reisten weiter nach Budapest. Die beiden großen Budapester Bahnhöfe, Keleti und Nyugati, entwickelten sich bereits seit Anfang des Jahres zur Drehscheibe, an der die Weiterfahrt organisiert wurde. Diese gelang im Regelfall im Rückgriff auf Fluchthelfer_innen, die Autotransporte nach Österreich und weiter organisierten. Laut unseren Quellen lag der Preis dafür bei etwa 200 Euro pro Person. Allein dieses relativ billige und ausreichend vorhandene Angebot führte dazu, dass nur einige Dutzend oder zeitweilig auch mal hunderte Flüchlinge an den beiden Budapester Bahnhöfen präsent waren. Aber nie mehr. Die informell organisierte Weiterwanderung funktionierte relativ reibungslos. Diese Einschätzung wird auch dadurch belegt, dass in den bayerischen und österreichischen Gefängnissen gegenwärtig hunderte "Fahrer" inhaftiert sind und auf ihre Prozesse wegen angeblicher Fluchthilfe warten.


Gerüchte und unintendierte Konsequenzen


Am Dienstag, den 25. August verlautete aus dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dass Deutschland bis auf weiteres Dublin-Rücküberstellungen von syrischen Flüchtlingen aussetzen werde. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei nur um eine interne Richtlinie ohne rechtliche Bindung, die im BAMF auch noch umstritten war. Dennoch sprach sich die Nachricht in kürzester Zeit unter den syrischen Flüchtlingen herum. Alle Versuche der Bundesregierung, die Maßnahme zu relativieren, kamen zu spät: Deutschland wurde zum Zielland Nummer Eins in Europa.

Am Donnerstag, den 27. August entdeckte die österreichische Polizei 71 Leichen von Flüchtlingen in einem LKW, der an einem Autobahnparkplatz südlich von Wien abgestellt war. In Folge dessen intensivierte die österreichische Polizei die Fahndung nach Fluchthelfer_innen. Spätestens ab Montag, den 31. August kam es deswegen zu massiven Polizeikontrollen auf den Autobahnen, die von Ungarn nach Österreich führen, es bildeten sich Rückstaus von bis zu 50 km Länge. Die Fluchthelfer_innen stellten ihre Tätigkeiten nachvollziehbarerweise weitestgehend ein.

Die ungarische Polizei hinderte zugleich Flüchtlinge daran, internationale Züge zu besteigen. Erst dadurch wuchs das informelle Camp am Bahnhof Keleti auf mehrere tausend Menschen an.

Am Montag, den 31. August, sprach sich das Gerücht herum, dass Deutschland die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge per Sonderzug abholen würde, während die ungarische Polizei sich komplett vom Bahnhof zurückzog. Ein Run auf die Züge (#trainofhope) setze ein, im Laufe des Tages konnten mehrere tausend Flüchtlinge Ungarn verlassen und kamen ein paar Stunden später in Wien und bald darauf in München an. Österreich unternahm nichts, um die Flüchtlinge aufzuhalten, auch Flüchtlinge, die an den Wiener Bahnhöfen auf ihre Weiterreise warteten, wurden nicht aufgehalten.

Es ist davon auszugehen, dass Deutschland und Österreich spätestens jetzt hinter den Kulissen immensen Druck auf Ungarn ausübten. Der österreichische Bundeskanzler Faymann mahnte Ungarn sogar öffentlich, seinen Verpflichtungen nachzukommen. In Folge dessen sperrte die ungarische Polizei am Dienstag, den 1. September, den Budapester Bahnhof für Flüchtlinge, von denen sich immer noch mindestens 3.000 am Bahnhof aufhielten und die immer mehr wurden.

Diese Situation hielt bis Donnerstag, den 3. September an. An diesem Tag wurden alle internationalen Zugverbindungen ausgesetzt, den Flüchtlingen wurde jedoch mitgeteilt, dass sie mit Regionalzügen an die österreichische Grenze fahren könnten. Doch der erste Zug mit rund 600 Flüchtlingen wurde 35 km außerhalb von Budapest in einem Ort namens Bicske aufgehalten und von Polizei umstellt. Dort befindet sich eines der ungarischen Flüchtlingslager, in welches die Polizei die Insass_innen des Zuges transportieren wollte. Diese weigerten sich jedoch und verharrten rund 30 Stunden in dem Zug. Gleichzeitig verbreitete sich die Nachricht von der Finte, woraufhin keine weitere Flüchtlinge in Züge stiegen.

Am Freitag, den 4. September, kam es zum bisherigen Höhepunkt dieses Kampfes um Bewegungsfreiheit. Wie schon am Vortag angekündigt starteten mehrere tausend Flüchtlinge am frühen Nachmittag zu Fuß den 170 km langen Marsch an die ungarisch-österreichische Grenze. Ihr erklärtes Ziel: Österreich und Deutschland. Auch in Bicske machten sich rund 300 der am Vortag aufgehaltenen Flüchtlinge zu Fuss auf den Weg und liefen auf den Bahngleisen gen Westen. Schon am Morgen hatten weitere 300 in Röszke, nahe der ungarisch-serbischen Grenze, internierte Flüchtlinge den Zaun um das Lager überwunden, wurden aber später wieder von der Polizei festgehalten. Die am Bahnhof Keleti verbliebenen Flüchtlinge wurden am Nachmittag von ungarischen Hooligans angegriffen, konnten den Angriff aber zurückschlagen.

Der Marsch gen Westen, der sich schnell unter dem Hashtag #marchofhope herumsprach, kam relativ zügig voran und erreichte bald eine zweispurige Autobahn. Die Bilder des Marsches werden sicherlich in die Ikonographie dieses langen Sommers der Migrationen eingehen, eine lange Reihe von Menschen, die sich nach einer Woche des Ausharrens die eigene Mobilität wieder aneigneten und kollektiv Budapest verließen. Unter dem Eindruck dieser Bilder und dem Wissen um das Scheitern einer repressiven Strategie erklärten Deutschland und Österreich, dass sie ihre Grenze öffnen und die Flüchtlinge aufnehmen würden, woraufhin die ungarische Regierung den Bustransport zum Grenzübergang organisierte. Über das Wochenende gelangten mindestens zehntausend Flüchtlinge nach Deutschland. Die Grenzen waren endlich offen.


Bewertung


Uns ist es wichtig festzuhalten, dass die von uns oben geschilderte Episode aus dem langen Sommer der Migration unterstreicht, wie durchlässig das Grenzregime schon vorher war, es aber erst die Störungen der Mobilität waren, die die Aufmerksamkeit darauf lenkten. Nachdem die türkisch-griechische Grenze seit Monaten de facto geöffnet war, hatten sich schon in den letzten Monate viele Menschen auf den Weg nach Norden gemacht. Griechenland beschränkte sich darauf, den Weitertransport der Flüchtlinge von den Ägäis-Inseln an die mazedonische Grenze zu gewährleisten. Mazedonien und Serbien ließen den Transit der Flüchtlinge zu, und auch in Ungarn wurde nicht allzu engagiert gegen die informellen Logistiker_innen der Flucht, die die Weiterreise nach Deutschland organisierten, vorgegangen. Es war wie ein unausgesprochener Pakt der Transitländer: Weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen.

Die erste Störung setzte jedoch ein, als Mazedonien im August kurzzeitig und erfolglos versuchte, die Grenze zu Griechenland zu schließen. Dies führte zu einem Stau, der sich einige Tage später in einer verstärkten Ankunft in Ungarn manifestierte. Sicherlich hatte auch die angekündigte baldige Fertigstellung des ungarischen Zauns dazu beigetragen, dass noch einmal vermehrt Flüchtlinge den Grenzübertritt versuchten. Doch erst die effektive Blockade des ungarisch-österreichischen Abschnitts ließ die Situation in Ungarn in einer Art und Weise eskalieren, der nun die zeitweilige, wenn auch vollständige Suspendierung des Grenzregimes im Inneren notwendig machte.

Allgemein, dies sehen nicht nur wir so, wird der Sommer der Migration (aka "europäische Flüchtlingskrise") als Krise des europäischen Projekts gesehen. Leider äußert sich diese Einsicht weniger in einer grundsätzlichen Kritik am Schengener Grenzregime und der Dublin-Verordnung, als in einem geschichtsvergessenen Appell an die EU-Mitgliedsstaaten, sich nun endlich solidarisch zu zeigen und eine gemeinsame europäische Lösung zu finden. Dabei wird so getan, als wäre erst 2015 das Sankt-Florians-Prinzip und das Recht des Stärkeren in die europäische Migrationspolitik eingezogen.

Der kurioseste Aspekt ist wahrscheinlich das komplette Unvermögen der ungarischen Regierung, eine humanitäre Katastrophe im Zentrum der Hauptstadt zum eigenen Vorteil auszuspielen. Statt mit Verweis auf die eigene geographische Lage, die begrenzten Ressourcen und das schützenswerte menschliche Leben Konzessionen von Europa zu fordern, polterte Victor Orbán durch Europa und ließ seinem Rassismus und Chauvinismus freien Lauf. Als paradoxe Konsequenz steht nun Ungarn für den lieblosen Versuch, die Regeln des europäischen Grenz- und Migrationsregimes aufrechtzuerhalten, am Pranger, während Deutschland trotz seiner Rolle als Architekt und Triebkraft eben jenes Gebildes nun für sein humanitäres Handeln weltweit gelobt wird.

Der zweifellos schönste Aspekt ist jedoch, dass mit den Flüchtlingen aus Syrien auch die ursprüngliche Kraft und Hoffnung des arabischen Frühlings ein zweites Mal nach Europa gekommen ist und die Grenzen herausgefordert hat. Der Rhythmus und die Entschlossenheit der Parolen, die über Tage hinweg gegen die Polizeikette am Haupteingang des Budapester Bahnhofs gerufen wurden, wirkten seltsam vertraut. Und auch das Bild des Einbeinigen, der mit einem Foto von Angela Merkel um den Hals den Marsch nach Österreich anführte, lesen wir keineswegs als Selbstviktimisierung, sondern im Gegenteil: Es ist vielmehr Ausdruck einer unglaublichen Entschlossenheit, das Ziel zu erreichen, zur Not eben auch zu Fuß und mit nur einem Bein. Diese Entschlossenheit traf in den letzten Tagen auf mehr und mehr Unterstützer_innen in ganz Europa, die über Facebook und Twitter Hilfe jenseits des Staates organisierten. Bis hin zum Aufruf zum kollektiven, offen praktizierten Menschenschmuggel, dem am Sonntag, den 6. September tatsächlich 140 Autos aus Wien folgten, unbehelligt von der Polizei.

Angesichts der vielen Flüchtlinge, die immer noch in Griechenland sind, oder dort gerade erst ankommen, ist davon auszugehen, dass es die nächsten Wochen und Monate so weiter gehen wird. Die Grenzen sind offen, das Grenzregime ist in der Defensive. Doch die Strategen in Brüssel und Berlin arbeiten schon an den nächsten Volten, dies ist klar. Eine EU-weite Liste so genannter "sicherer Herkunftsstaaten", große Internierungslager an den Grenzen der EU (innerhalb, denn der Traum der Externalisierung scheint erstmal auf Eis gelegt), ein Überdruckventil für Dublin und alles in allem mächtigere, zentrale europäisierte Institutionen des Asyls und des Grenzschutzes. Das europäische Grenzregime wird nach diesem Sommer anders aussehen, aber vor allem bleibt die Botschaft, dass es überwunden werden kann. Auch dies wird sich sicherlich bald wiederholen.

Artikel von Bernd Kasparek / Marc Speer, zuerst veröffentlicht auf :: bordermonitoring.eu, hier bearbeitet von no-racism.net.